Zum Inhalt springen

Abstimmungsfazit Politologe Lutz: «Die Schweiz ist progressiver geworden»

Der Politikwissenschaftler Georg Lutz macht unter anderem die Mobilisierung der Stimmenden für den links-grünen Erfolg am Sonntag verantwortlich. Und: Die SVP habe ein Problem.

Georg Lutz

Professor für Politologie

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Der Politologe Georg Lutz ist Professor an der Universität Lausanne. Davor war er Projektleiter der Schweizer Wahlstudie «Selects» am Forschungszentrum Sozialwissenschaften FORS in Lausanne.

SRF News: Am Abstimmungssonntag war vor allem links-grün erfolgreich. War das zu erwarten?

Georg Lutz: Teilweise schon. So hat sich beim Vaterschaftsurlaub ein Ja abgezeichnet, auch das Nein bei der SVP-Begrenzungsinitiative war absehbar – hier gab es eine klare mehrheitsfähige Koalition, zu der auch links-grün gehörte. Beim Jagdgesetz und bei den Kinderabzügen war der linke Erfolg weniger absehbar. Hier ist die Kampagne offenbar gut angekommen. Und bei den Kampfjets hatte niemand ein so knappes Resultat erwartet.

Erfolgreiches Wochenende für links-grün

Box aufklappen Box zuklappen

Mit den Abstimmungsergebnissen vom Wochenende kann vor allem links-grün zufrieden sein: Vier von fünf Vorlagen wurden in ihrem Sinne entschieden. Die Begrenzungsinitiative der SVP wurde ebenso abgelehnt wie das Jagdgesetz und die höheren Kinderabzüge bei den Steuern. Ausserdem wurde der Vaterschaftsurlaub sehr deutlich angenommen. Und obendrauf wäre die Kampfjetvorlage beinahe gescheitert – 8670 Ja-Stimmen gaben hier den Ausschlag.

Was sind die Gründe für den links-grünen Erfolg?

Einer ist, dass die Schweiz in einigen Fragen durchaus progressiver geworden ist. So war ein Vaterschaftsurlaub lange Zeit ein Tabu. Auch Steuervorlagen wurden früher oft im Sinne der bürgerlichen Mehrheit entschieden – jetzt entscheidet eine differenziertere Stimmbürgerschaft.

Es stand nicht einfach der Bürgerblock den Linken gegenüber.

Auch gab es bei den fünf Vorlagen keine klaren Konfliktlinien – nicht einfach Bürgerblock gegen links. Die politischen Konstellationen waren bei allen fünf Vorlagen verschieden. Ausserdem konnte die Linke einen Mobilisierungserfolg feiern. Die hohe Stimmbeteiligung dürfe vor allem den progressiven Kräften Auftrieb gegeben haben.

Wir haben einen Graben zwischen einem progressiven und einem konservativen Pol.

In der Nachbetrachtung war oft die Rede von Stadt/Land-Graben, aber auch von Rösti- und Risotto-Graben. Haben Sie diese Gräben auch erkannt?

Es ist weniger die Spaltung Stadt/Land oder Deutschschweiz/Romandie. Was wir inzwischen eher haben, ist ein Graben zwischen einem progressiven Pol – dazu gehören die Romandie und die Städte der Deutschschweiz – und einem konservativen Pol, der vor allem aus den ländlichen Gebieten der Deutschschweiz sowie bei ausländerpolitischen Fragen aus dem Tessin besteht.

Marco Chiesa.
Legende: Der neue SVP-Präsident Marco Chiesa ist gefordert: Seine Partei muss über die Bücher. Keystone

Verliererin des Abstimmungssonntags ist die SVP. Was hat sie falsch gemacht?

In der Schweiz gibt es zwar nach wie vor eine Migrationsskepsis, welche die SVP in den vergangenen 20 Jahren erfolgreich bewirtschaftet hat. Inzwischen hat der Migrationsdruck allerdings deutlich abgenommen, es gibt weniger Einwanderung, die Asylzahlen sind derzeit tief.

Das Volk will keinen Konfrontationskurs mit der EU.

Andere Themen werden von der Bevölkerung derzeit als wichtiger wahrgenommen. Auch ist das Volk seit je her an guten bilateralen Beziehungen mit der EU interessiert, es will keinen Konfrontationskurs – gerade in der momentan unsicheren Zeit nicht.

Trotzdem waren von der SVP am Sonntag nur wenig selbstkritische Töne zu vernehmen. Muss die Partei jetzt nicht grundsätzlich über die Bücher?

Nur weil es in der Öffentlichkeit keine Selbstkritik gab, heisst das nicht, dass die Diskussion parteiintern nicht geführt wird. Dies passiert jetzt sicher intensiv, und dabei wird der neue Präsident, Marco Chiesa, gefordert sein. Für ihn dürfte das Zusammenhalten der Partei die schwierigere Aufgabe sein als das Wirken gegen aussen.

Die SVP ist sich nicht gewohnt, auf andere Parteien zuzugehen und mit ihnen Mehrheiten zu finden.

Die SVP hat ein strukturelles Problem: Mit den zentralen Themen ist ihr die Mehrheitsfähigkeit verloren gegangen. Ausserdem ist sie völlig auf Opposition eingestellt, auch im Parlament funktioniert sie so. Wenn sie aber nicht mehr mit Volksabstimmungen drohen kann, dann hat sie ein fundamentales Problem, sich in der Politik durchzusetzen. Denn die SVP ist sich nicht gewohnt, auf andere Parteien zuzugehen und mit ihnen Mehrheiten zu finden. In diesem Bereich muss die SVP tatsächlich grundsätzlich über die Bücher.

Das Gespräch führte Hans Ineichen.

SRF 4 News aktuell vom 28.9.2020, 10.05 Uhr ; 

Meistgelesene Artikel