Zum Inhalt springen

Anwaltsbüros Missstände in Kanzleien: Junge sind überlastet und unterbezahlt

In Westschweizer Kanzleien sowie beim Staat werden Anwältinnen und Anwälte in Ausbildung manchmal jahrelang unter dem Existenzminimum entlöhnt. Andere sammeln Überstunden an. Einige von ihnen berichten hier über ihre Arbeitsbedingungen.

«Heute nach fünf Jahren Studium noch im Praktikum zu sein, ist eine Schande. Ebenso wie einzugestehen, dass ich arm bin. Alle sagen mir, dass ich später gut verdienen werde. Aber im Moment bekomme ich 2100 Franken netto pro Monat und komme nicht über die Runden», so Julie*.

Mit ihrem aktuellen Gehalt habe sie am 10. des Monats bereits nichts mehr auf dem Konto, obwohl sie ihrer Kanzlei Abertausende Franken einbringe. Ausserdem würden ihre Überstunden weder erfasst noch kompensiert.

Anwaltsanwärterinnen und -anwärter erzählen über die Missstände:

Julie ist kein Einzelfall. Etwa 15 Anwaltsanwärterinnen und -anwärter aus fast der gesamten Romandie haben dem Westschweizer Radio und Fernsehen (RTS) von den Arbeitsbedingungen während ihrer Ausbildung berichtet. Beinahe alle beklagen ihre niedrigen Gehälter sowie unvergütete Überstunden. Einige werden von ihren Vorgesetzten nicht geschult, andere erleben Erniedrigungen und Beleidigungen.

Extrem niedrige Gehälter

Mit ihrem Lohn ist Julie im Vergleich noch ganz gut gestellt. Antoine* verdient 1500 Franken netto im Monat: «Man spürt, dass wir äusserst rentable Arbeitskräfte sind. Wir kosten nichts, und wenn ein Fehler passiert, dann ist es unsere Schuld.»

Ein Teil des Anwaltspraktikums findet beim Staat statt, der Rest in privaten Kanzleien. Es ist schwierig, die tatsächlichen Gehälter zu ermitteln. Klar ist aber, dass einige der kantonalen Anwaltskammern ihren Mitgliedern empfehlen, einen Mindestlohn auszuzahlen. Dabei zeigt sich, dass die Gehälter von Antoine und Julie tatsächlich den Vorgaben ihrer kantonalen Anwaltskammern entsprechen.

Dazu kommen die Kosten für die Anwaltsprüfungen (je nach Kanton bis zu etwa 3000 Franken) und die Vorbereitungszeit, die in der Regel nicht vergütet wird.

Mehrere angehende Anwältinnen und Anwälte beklagen zudem, dass ihre Vorgesetzten sie nicht richtig ausbilden würden und es ihnen teils auch an der nötigen Kompetenz mangle. Wie im Fall von Pierre*: «Eine meiner Ausbildnerinnen kannte sich nicht gut mit dem Schweizer Recht aus, weil sie selbst in einem anderen Land ausgebildet wurde. Dennoch durfte sie uns ausbilden.»

«Man weiss, dass man fertiggemacht wird»

Pierre berichtet: «In einem anderen Praktikum beschimpfte mich mein Vorgesetzter als inkompetent, wenn ich die juristischen Akten nicht richtig erledigte. Jeder hat das mitbekommen. Für uns ist es ganz normal, dass wir viel einstecken müssen. Kaum einer meiner Freunde sagt, dass sein Praktikum gut gelaufen ist.»

Auch Caroline* hat eine schwierige Situation erlebt: «Die Anwälte machten sich oft über die Praktikanten lustig, vor allen Mitgliedern der Kanzlei. Einer von ihnen machte mehrmals Bemerkungen über mein Aussehen. Ich war nicht die Einzige, die unter ihrem unangemessenen Verhalten zu leiden hatte.»

Mehrere kontaktierte Mitglieder von Anwaltskammern in der Westschweiz prangern diese Praktiken an und fordern, dass problematische Fälle gemeldet werden. Doch die Meisten trauen sich nicht, etwas zu sagen, erklärt Antoine: «Ich äussere mich anonym, weil es sich um einflussreiche Personen handelt. Sie finden immer einen Weg, einen zu schikanieren, indem sie beispielsweise Bewerbungen ausbremsen oder eine Person einer anderen vorziehen.»

*Namen geändert

RTS, 19h30, 31.5.2025, 19:30 Uhr; sten

Meistgelesene Artikel