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Umstrittene Strafminderung Die Freilassung eines Mafiabosses sorgt in Italien für Unmut

Der ehemalige Mafia-Boss Giovanni Brusca, Urheber des Attentats gegen Richter Giovanni Falcone im Jahr 1992, ist seit diesem Sommer definitiv frei. Er profitierte von einer Strafminderung, weil er mit der Justiz kooperierte. In Italien löst das bei manchen Unverständnis aus.

Der Name Giovanni Brusca ist im Gedächtnis vieler Italienerinnen und Italiener eingraviert und steht für einen der grausamsten Mafiosi, die das Land je gekannt hat. Als herausragende Figur der sizilianischen Cosa Nostra wurde er für insgesamt rund 200 Morde angeklagt. Er soll unter anderem den Körper eines Kindes in Säure aufgelöst haben.

Was Zeitzeugen zur Freilassung von Giovanni Brusca sagen:

Am 23. Mai 1992 war er es, der die Bombe zur Explosion brachte, die den Anti-Mafia-Richter Giovanni Falcone, seine Ehefrau und drei Männer seiner Eskorte tötete.

Die Anwältin Enza Rando war in den 1990er Jahren Vizepräsidentin der Anti-Mafia-Vereinigung Libera und sass damals Giovanni Brusca einmal gegenüber. «Als ich Brusca fragte, wie viele Verbrechen er begangen habe, war er nicht einmal imstande, eine genaue Zahl zu nennen», sagte sie gegenüber dem Westschweizer Radio und Fernsehen (RTS). «Das zeigt das Ausmass der Verbrechen, die er begangen hat.»

Zusammenarbeit mit der Justiz

Mehr als dreissig Jahre später ist der ehemalige Mafia-Boss ein freier Mann. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis im Jahr 2021 beendete die Justiz diesen Sommer seine vierjährige Bewährungszeit. Grausame Ironie: Er verdankt seine Befreiung dem Gesetz, das von Richter Falcone gewollt war, für dessen Tod er verantwortlich ist.

Wenn Giovanni Brusca heute frei ist, dann deshalb, weil er sich entschied, mit der Justiz zu kooperieren. Das sogenannte Falcone-Gesetz sieht vor, dass Reumütige eine Strafminderung erhalten, wenn sie im Gegenzug unveröffentlichte und überprüfbare Enthüllungen liefern über die kriminelle Organisation, der sie angehörten.

«Wer mit der Justiz kooperiert, da ist das Gesetz sehr deutlich, muss Aussagen nicht nur gegen sich selbst machen, sondern auch gegen die kriminelle Gruppe, der er angehörte», betont Enza Rando, die heute Senatorin ist für den sozialdemokratischen Partito Democratico. «Es dürfen nicht Dinge sein, die die Justiz bereits weiss, sonst wäre es zu einfach. Es müssen neue Elemente sein, natürlich überprüfbare, weil sehr oft Leute auch falsche Dinge erzählt haben.» Dieses Prinzip habe es ermöglicht, die Cosa Nostra nachhaltig zu schwächen.

Unbehagen in Italien

Auch wenn das Falcone-Gesetz über die Reumütigen seine Wirksamkeit bewiesen hat, vielen genügt das nicht. Tony Gentile stammt aus Palermo und arbeitete als Fotograf für die Agentur Reuters. Heute ist er pensioniert. In seiner Wohnung in Rom sind seine Wände mit Fotos und Zeitungstitelseiten bedeckt. Vor allem gibt es dieses Foto von ihm, das 1996 das Cover des «Time Magazine» zierte: Brusca in Handschellen, eskortiert von zwei bewaffneten Polizisten, gleich nach seiner Verhaftung.

Giovanni Brusca nach seiner Festnahme im Mai 1996 in Palermo.
Legende: Giovanni Brusca nach seiner Festnahme im Mai 1996 in Palermo. KEYSTONE/LANNINO

Wie viele in Italien erträgt es Gentile schlecht, zuschauen zu müssen, wie Mafiosi wie Brusca, die in den 1980er- und 1990er-Jahren verhaftet wurden, dank des Falcone-Gesetzes aus dem Gefängnis kommen. «Falcone, das war ein grosser Mann. Das war jemand, der kämpfte, der sich für uns opferte, für die Gerechtigkeit, für alle. Aber wo steht geschrieben, dass er, nur weil es Giovanni Falcone ist, immer recht hat?», fragt Gentile.

Dieses Paradoxon spaltet Italien weiterhin. Und das Falcone-Gesetz über die Reumütigen interessiert Länder wie Frankreich im Kampf gegen Terrorismus und Drogenhandel.

RTS, Tout un monde, 9.9.2025, 8:14 Uhr; noes

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