Es ist ein dunkles Kapitel in der Schweizer Geschichte: Erwachsene, die nicht den gängigen Moralvorstellungen oder Normen entsprachen, wurden in der Schweiz jahrzehntelang in psychiatrischen Kliniken weggesperrt. Kinder aus ökonomischen und moralischen Überlegungen in Heimen «versorgt» – bis 1981.
Zürcher Forschungsprojekt bringt etwas Licht ins Dunkel
Knapp zwei Jahre lang arbeitete ein Team des Zürcher Staatsarchivs die Geschichte der Fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen auf. Die Resultate dieses Forschungsprojekts sind nun in Buchform erschienen. Das Werk «Menschen korrigieren» befasst sich mit vier Aspekten, etwa der Heimlandschaft des Kantons Zürich und den rechtlichen Grundlagen der angeordneten Massnahmen.
SRF: Sie blicken im Buch auf eine über hundertjährige Praxis von Zwangseinweisungen und Fremdplatzierungen im Kanton Zürich zurück. Eine Zahl zum Ausmass solcher Massnahmen findet sich jedoch nicht. Lässt sich diese nicht erfassen?
Beat Gnädinger: Wir mussten feststellen, dass es ausserordentlich schwierig ist, dazu verlässliche Zahlen zu erheben. Denn die verordneten Massnahmen wurden nie systematisch über die ganze Zeit erfasst. Das wird auch von Betroffenen kritisiert. So wisse die Schweiz genau Bescheid, wie viele Kühe es im Land gibt, nicht aber, wie viele Menschen von Zwangsmassnahmen betroffen waren, lautet ihre Kritik. Das sei den Behörden offensichtlich zu wenig wichtig gewesen.
Gibt es denn Schätzungen, von welcher Grössenordnung sprechen wir?
Wir können sagen, wie viele Heimplätze es zu welcher Zeit gab. Die Erhebungen dazu zeigen etwa, dass es in den 1930er-Jahren einen starken Anstieg von Heimplätzen gab. Das weisen wir in unserem Buch auch aus.
Ein Kapitel des Buchs befasst sich mit den rechtlichen Grundlagen, auf die sich die Behörden abstützen konnten. So kann man nachlesen, dass es bis 1981 für die Betroffenen kaum eine Möglichkeit gab, sich gegen eine Massnahme zu wehren. Ist das einer der Gründe, weshalb es so weit kommen konnte?
Das ist sicher ein wichtiger Punkt. Es zeigte sich, dass das System tatsächlich eine sehr grosse Flexibilität zuliess. Für mich ist daher tatsächlich die wichtigste Erkenntnis aus den verschiedenen Ergebnissen, dass der Handlungsspielraum der Behörden viel zu gross war. Ein grosser Teil des Leids, das verursacht wurde, kann auf diesen Handlungsspielraum zurückgeführt werden.
Die Handlungsspielräume der zuständigen Behörden waren sehr gross.
Ganze Biografien wurden entscheidend geprägt, ohne dass die Betroffenen wussten, was das für sie bedeutet, manchmal wussten sie nicht einmal, weshalb eine Massnahme getroffen wurde. Sie wurden stigmatisiert und kamen materiell unter Druck. Das alles hatte direkt zu tun mit der behördlichen Macht, die zur Verfügung stand.
Das Buch ist erst ein Anfang zur Aufarbeitung dieses Kapitels der Schweizer Geschichte. Welche weiteren Schritte wären nun nötig?
Ein wichtiger Schritt wäre, die verschiedenen Forschungsergebnisse, die inzwischen vorliegen und demnächst noch folgen werden, zur Kenntnis zu nehmen und erst einmal etwas darüber nachzudenken. Wir können heute feststellen, dass die Schweiz nicht wirklich einen fairen und guten Umgang hatte mit Randgruppen und Andersdenkenden. Dies könnte ein guter Ansatzpunkt sein für weitere Überlegungen, zum Beispiel was es in der Praxis braucht, damit ein Land, das von sich behauptet, alle seien gleich, dies auch umsetzt.
Das Gespräch führte Dorotea Simeon.