Heute Mittwoch beteiligten sich wieder Hunderttausende von Menschen in der ganzen Schweiz am Frauenstreik. Der erste Frauenstreik in der Schweiz im Jahr 1991 wurde massgeblich durch Ruth Dreifuss mitgestaltet. Damals war sie Zentralsekretärin des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, zwei Jahre später wurde sie Bundesrätin.
Die Forderungen von heute klingen wie damals. Was bringt also der Frauenstreik? Ruth Dreifuss war Gast im «Tagesgespräch».
SRF News: Frau Dreifuss, wie haben Sie den 14. Juni 1991 erlebt?
Ruth Dreifuss: Hauptsächlich kann ich mich daran erinnern, was alles nötig war, um den Streik auszurufen und zu organisieren. Unser Anliegen war es, aufzuzeigen, zu was es Frauen in unserer Gesellschaft bringen können.
Gewisse Parteien wollen viele Errungenschaften rückgängig machen.
Die Arbeit der Frau wurde ungenügend anerkannt und wir wollten beweisen, dass die Gesellschaft ohne diesen Beitrag der Frau zusammenbrechen würde. Am Ende gingen über eine halbe Million Menschen auf die Strasse und unterstützten unsere Forderungen.
Die Forderungen des ersten Frauenstreiks 1991 waren Lohngleichheit für Frauen, das Ende der sexuellen Belästigung und Gleichstellung bei Fragen der sozialen Sicherheit. Die heutigen Forderungen sind ähnlich. Was hat der Frauenstreik vor 32 Jahren gebracht?
In den aufgezählten Bereichen kam es zu Fortschritten, jedoch sind diese noch ungenügend. Beispielsweise hat das Parlament eine AHV-Revision durchgeboxt, welche nicht ausreichend Kompensation für die Frauen mit sich bringt. Gewisse Parteien wollen viele Errungenschaften rückgängig machen, weil sie der Meinung sind, dass die Frauen schon zu viel verlangt haben.
Sie sagten einmal: «Ich wäre sicher nicht ohne den Frauenstreik gewählt worden.» Ist das so?
Die ungenügende Vertretung der Frauen in der Politik wurde 1991 sichtbar. Ein Bundesrat, der nur aus Männern zusammengesetzt ist, das geht nicht mehr. Das war auch Thema am Frauenstreik. Hinzu kam die Enttäuschung, dass die erste Bundesrätin nur kurz im Amt war. Das und die krisenhafte Wahl – die Kandidatur von Christiane Brunner, die Wahl von Francis Matthey, der später verzichtete, die zweite Wahl, die riesigen Demonstrationen in Bern – haben dazu geführt, dass ich Bundesrätin geworden bin.
Ruth Dreifuss in Bildern
Es gibt Stimmen, die der Meinung sind, dass es keine Frauendiskriminierung mehr gibt. Fortschritte seien erkennbar, wie beispielsweise die Finanzierung von Krippen durch den Bund, die Individualbesteuerung, die ein Zweiteinkommen attraktiver macht oder das revidierte Sexualstrafrecht. Dazu kommt ein Parlament mit so vielen Politikerinnen wie noch nie. Brauchen wir den Frauenstreik noch?
Es stimmt, wir haben viel erreicht. Unter anderem verdanken wir das einem unermüdlichen Einsatz in den letzten 50 Jahren. Es wurden Fortschritte erreicht, die vorher noch unvorstellbar gewesen wären.
Es können nicht alle Frauen in die Politik, die wollen.
Aber wir sind noch nicht am Ende der Reise. Solange wir nicht in einer Gesellschaft leben, in der Männer und Frauen frei und gleichermassen ihre Lebensprojekte realisieren können, sind wir noch nicht angekommen.
Ist dies tatsächlich der Fall?
Es können beispielsweise nicht alle Frauen in die Politik, die wollen. Je nach Familienverantwortlichkeit wird die Zeit so stark beschnitten, dass ein Einstieg in die Politik undenkbar ist.
Was erreicht wurde, lässt sich sehen, aber es ist immer noch ungenügend.
Klar, der Anstieg der Zahlen von Frauen in Verwaltungsräten ist zu begrüssen. Ich bin der Ansicht, dass die Erfolge der letzten 50 Jahren das Selbstbewusstsein stärken. Was erreicht wurde, lässt sich sehen, aber es ist immer noch ungenügend.
Anders als beim Streik von 1991 wird der heutige anderes genannt: feministischer Streik. Die Namensänderung führt zu Diskussionen. Bürgerliche Frauen wenden sich davon ab. «Feministisch» sei ein «links gefärbtes Reizwort». Was halten Sie von der Namensänderung?
Als ich das erste Mal von der Namensänderung erfuhr, fand ich, dass dieser Name einladend ist – für alle. Es zeigt einfach, dass man sich nicht auf Frauen begrenzen will. Und das scheint mir sehr wichtig. Wir haben schon 1991 versucht, Männer miteinzubeziehen.
‹Suffragette› war auch einmal ein Schimpfwort.
Dass «feministisch» ein Reizwort sein soll, nehmen hauptsächlich gewisse Menschen des rechten politischen Spektrums wahr. Aber «Suffragette» war auch einmal ein Schimpfwort. «Frauenrechtlerin» – es hatte für viele etwas Rechthaberisches. In Anbetracht dessen, wie lange sich viele Frauen und Männer bereits dafür einsetzen, und man das nun «feministische Bewegung» nennt, da habe ich absolut nichts dagegen.
Verbal angegriffen wurde man also schon 1991. Das hat sich bis heute nicht verändert?
Nein. Es war immer schon so, dass jene Menschen, die Forderungen stellen, a priori angegriffen werden. Natürlich gibt es eine Tendenz, dass, wenn die Forderungen nicht erfüllt werden oder man sich selbst benachteiligt fühlt, der Ton härter geworden ist als vor ein paar Jahren.
Ich wusste, dass es in unserem politischen System Zeit braucht, um wirklich etwas zu realisieren.
Es ist eine neue Generation, die meiner Generation beinahe vorwirft, zu geduldig gewesen zu sein. Geduldig war ich nie, aber beharrlich. Ich wusste, dass es in unserem politischen System Zeit braucht, um wirklich etwas zu realisieren.
Sie haben sich am Anfang Ihrer Karriere als Politikerin vor allem gegen Krieg, Rassismus und Ungleichheit eingesetzt. Wie sind Sie danach zum Feminismus gekommen?
Die sozialen Fragen, die humanitäre Hilfe wie auch die internationalen Ungleichheiten führten mich zum Feminismus. Ich sah in so vielen Kriegen und Krisen ungerecht behandelte Frauen. Frauen, welche unter prekären Bedingungen arbeiten oder Kinder betreuen. Zu Beginn meiner politischen Karriere gehörte der Feminismus nicht zu den Fragen, die mich angetrieben haben. Mir fehlte jedoch etwas in meinem Weltbild.
Wir haben im Ukrainekrieg unsere Verpflichtung als Staat nicht erfüllt.
Durch unterschiedliche Menschen habe ich meinen Weg zum Feminismus gefunden und ich bin glücklich, dass sich meine Weltanschauung erweitert hat. Aber Sie haben recht. Ursprünglich waren Kriege und Krisen meine politischen Schwerpunkte. Und da muss ich natürlich anfügen, wenn ich schon über Krieg spreche, dass der gegenwärtige Krieg in der Ukraine ein weiteres Kapitel der Grausamkeit in dieser Welt ist. Ich denke, wir haben da unsere Verpflichtung als Staat nicht erfüllt.
Welche Verpflichtungen hat die Schweiz denn gegenüber der Ukraine? Würden Sie befürworten, dass aufgrund der aktuellen Situation die Schweiz ihren Neutralitätsstatus temporär aussetzen soll?
Ich bin der Ansicht, dass die Länder, die Waffen in der Schweiz gekauft haben, wie beispielsweise Italien, diese auch in die Ukraine liefern dürfen.
Sie sind also für eine Weiterleitung von Kriegsmaterial an die Ukraine durch andere Länder?
Ganz klar.
Was kritisieren Sie am Bundesrat?
Meine Kritik am Bundesrat ist, dass er der Schweizer Bevölkerung aktuell nicht ausreichend erklärt, was die Verpflichtungen eines neutralen Staates in der aktuellen Situation sind. Der Auslöser des Krieges ist Russland.
Meines Erachtens ist dies eine Fehlinterpretation des Neutralitätsbegriffs.
Ich bin der Ansicht, dass in diesem Fall klar Partei ergriffen werden muss. Dies bedeutet nicht, schöne Reden zu halten. Genauso wenig bedeutet dies, nur humanitäre Hilfe zu leisten. Es bedeutet, den Menschen in der Ukraine zu helfen, sich zu verteidigen und sie dabei zu unterstützen, dass sie ihr Land wieder zurückerobern können.
Wäre es nicht eine Verletzung des Neutralitätsprinzips, wenn die Schweiz klar Partei ergreifen würde?
Nein. Ein neutraler Staat ist nur dann gezwungen, zwei Kriegsparteien gleichzubehandeln, wenn beide Parteien gleichermassen zum Konflikt beigetragen haben. Greift ein Land das andere an, ist kein neutraler Staat gezwungen, mit beiden Protagonisten gleich umzugehen. Meines Erachtens ist dies eine Fehlinterpretation des Neutralitätsbegriffs.
Man kann die Gesetze ändern. Und bitte rasch.
Die kürzlich besprochenen Wiederexporte von Waffen aus Schweizer Produktion haben nichts mit der Neutralität der Schweiz zu tun. Diese stehen ausschliesslich im Zusammenhang mit dem Schweizer Kriegsmaterialgesetz.
Bundespräsident Alain Berset verteidigt das Weitergabeverbot für Kriegsmaterial. Man könne nicht verlangen, dass die Schweiz ihre eigenen Gesetze breche.
Nein, aber man kann die Gesetze ändern. Und bitte rasch.
Das Gespräch führte David Karasek, mitgearbeitet hat Géraldine Jäggi.