Seit dieser Woche gibt es «Spare» offiziell im Handel zu kaufen. Wenn der britische Prinz Harry öffentlich macht, was doch persönlich sein soll, ist dies nicht neu. Expertin Christine Lötscher erklärt.
SRF News: Harry schreibt in «Spare» sein Leben auf und reiht sich damit ein in eine literarische Tradition. Können Sie die bedeutendsten Autobiografien aller Zeiten nennen?
Christine Lötscher: Aus kulturwissenschaftlicher Sicht sind die «Confessiones» des Kirchenlehrers Augustinus zu nennen. Sie erfassen das Verhältnis vom Menschen zu Gott und zeigen auf, dass der Mensch nicht anders als sündhaft sein kann. Der Prozess des Aufschreibens der Sünden kann ein Weg zur Läuterung und damit zu Gott sein. Das war in der Entstehungszeit von Bedeutung und ist es in der Rezeptionsgeschichte bis heute.
«Dichtung und Wahrheit» gibt wieder, wie Johann Wolfgang von Goethe zum Dichter geworden ist. Dabei reflektiert der Text, dass die eigene Lebensgeschichte immer eine Konstruktion ist. Nicht unbedingt eine Erfindung, aber die Wiedergabe des Verlaufs eines Lebens, die erst im Nachhinein Sinn ergibt.
Die eigene Lebensgeschichte ist immer eine Konstruktion.
Schliesslich die «Confessions» von Jean-Jacques Rousseau, in welchen der Philosoph vermittelt durch persönliche Erfahrungen eine umfassende Gesellschaftstheorie entwickelt.
Welche jüngeren Autobiografien haben Gewicht?
Nelson Mandelas «Long Walk to Freedom». Und jünger: Michelle Obamas «Becoming». Diesen Texten ist gemein, dass sie zwar von Prominenten, aber eben auch von Zeitzeugen geschrieben sind. Das Zeugnis eines Lebens ist dabei wichtiger als die Wiedergabe einer bestimmten Person.
Daran knüpfen die Autobiografien von Sportlern an. Sie vermitteln, dass jeder – unabhängig von sozialen Hindernissen – den Aufstieg schaffen kann. Das populäre Muster ist hier ein anderes als in den klassischen Biografien. Man ist eben nicht gefangen in den gegebenen Bedingungen, sondern kann diese überwinden.
Wo ordnen Sie Harrys «Spare» ein?
«Spare» ist Teil eines eigenen, jüngeren Genres – bei dem Lebensgeschichten oft von Ghostwritern geschrieben werden und der Vermarktung dienen. Dabei inszeniert sich ein unnahbarer Prominenter, hier ein Prinz, als greifbarer Mensch, indem er etwa von Familienkonflikten erzählt, die jeder kennt. Dem Zweck nach baut Harry ein Business auf, bei dem die Netflix-Serie das Buch ergänzt und umgekehrt.
Also ist das Buch mitnichten ein persönliches.
Persönlich ist daran allenfalls, dass Harry einen vergleichbaren Umgang mit den Medien sucht wie seine Mutter Diana: Er nutzt die mediale Aufmerksamkeit, um sich zu wehren – oder er will zumindest diesen Anschein erwecken.
Ein verwöhnter Prinz setzt sich als Leidtragender in Szene.
Harry wie Diana als Opfer und Rebell?
Der Prinz klagt Missstände an, etwa die Intoleranz einer Nation mit kolonialistischer Vergangenheit gegenüber seiner Frau mit afroamerikanischen Wurzeln. Doch das Opfer- und Rebellen-Motiv gelingt ihm wohl nicht. Viele Leser verurteilen ihn für seine Verdrehung der Tatsachen: Ein privilegierter Mann, ein verwöhnter Prinz, setzt sich als Leidtragender in Szene.
So schadet Harry also sich selbst und dem Königshaus …
Vielleicht auch nicht. Harry schafft Sympathien für die kritisierte Familie und Aufmerksamkeit für eine Institution, die an Bedeutung verliert. Die Streitereien sind Spektakel. Wenn Harry verkündet, dass alles gesagt sei und er nun Frieden wünsche, ist ein neues Kapitel aufgeschlagen, neues Interesse geweckt.
Eine Geschichte zum Weitererzählen.
Das haben alle Autobiografien gemein: Sie erfassen etwas, was über ihren Inhalt hinausgeht. Sie wollen eine Geschichte wert sein – die man nach- und weitererzählt.
Das Gespräch führte Christine Spiess.