Vreni Peterer war zehn, als «ihr» Pfarrer sie vergewaltigte. Sie schwieg. Aus Angst und Scham. Als sie bei der Meldestelle für Missbrauchsbetroffene von der Tat berichtete, erfuhr sie: Sie war nicht das erste Opfer dieses Pfarrers.
Ihr Peiniger war ein verurteilter Sexualstraftäter. Der zuständige Bischof wusste von dessen Verurteilung durch ein weltliches Gericht. Doch anstatt den Täter aus der Seelsorge abzuziehen und weitere Kinder vor Übergriffen zu schützen, vertuschten der Bischof und sein Umfeld dessen Taten.
Das Erlebte verfolgt Vreni Peterer bis heute – so sehr, dass sie die Erfahrung auch Jahre später noch bildlich nacherzählen kann.
Vreni Peterer erzählte niemandem, was ihr der Pfarrer angetan hatte. Sie litt still – in jungen Jahren an ständiger Übelkeit und Magenproblemen, später an Depressionen. Zu ihrem Arzt sagte sie einmal: «Ich hätte lieber einen Arm- oder einen Beinbruch anstelle dieser Schmerzen in der Seele».
Ihr Leiden wurde so stark, dass Vreni Peterer sich selbst verletzte, um den psychischen Schmerz mit körperlichem Schmerz zu überdecken: Sie schnitt sich, verbrannte sich mit dem Bügeleisen, verbrühte sich mit heissem Wasser. Wenn ihre kleinen Söhne das Haus verlassen hatten, legte sich Vreni Peterer wieder ins Bett, unfähig, ihre täglichen Pflichten auszuüben.
Die Überdosis und der lange Weg zurück
2005, im Alter von 44 Jahren, wurde Vreni Peterer alles zu viel: Sie schluckte eine Überdosis Medikamente: «Ich wollte einfach Ruhe haben», erinnert sie sich. Nach diesem Suizidversuch wurde sie kurz vor Weihnachten in die psychiatrische Klinik Littenheid eingewiesen.
Dort wurde Vreni Peterer stabilisiert. Den eigentlichen Grund für ihre seelische Not konnte sie aber erst dreizehn Jahre und viele Therapien später benennen. In einer Hypnosetherapie brachte sie den alles entscheidenden Satz stotternd über die Lippen: «Es war der Pfarrer.» Nach dieser Therapie suchte die damals 57-Jährige ein Foto ihres Vergewaltigers im Internet und schwor dem zwischenzeitlich verstorbenen Täter: «Dich zeige ich an!»
Der Bischof wusste von der Verurteilung
Tags darauf bat Vreni Peterer bei der Meldestelle für Missbrauchsbetroffene, dem sogenannten Fachgremium des Bistums St. Gallen um einen Termin. Was sie dort erfuhr, war gleichzeitig erleichternd und verstörend: Sie war nicht das einzige Opfer von Pfarrer W.B. – eine weitere Betroffene hatte sich beim Fachgremium gemeldet. Vreni Peterer konnte also die Angst ablegen, dass man ihr nicht glauben könnte. Geschockt war Vreni Peterer aber über die Tatsache, dass ihr Vergewaltiger ein verurteilter Sexualstraftäter war.
Als Missbrauchsbetroffene durfte Vreni Peterer nämlich Einblick nehmen in das Personaldossier von Pfarrer W.B. Dort las sie die schockierende Wahrheit schwarz auf weiss: W.B. war 1951 vom Bezirksgericht Gaster zu vier Monaten Gefängnis bedingt verurteilt worden, wegen «unzüchtiger Handlungen mit und vor Kindern».
Der Bischof wusste von dieser Verurteilung. Statt W.B. aber aus der Seelsorge abzuziehen, liess er diesen vorübergehend in einem anderen Bistum arbeiten, bis W.B.s Straftaten in Vergessenheit geraten waren. Danach kam W.B. nach Altenrhein, wo er auf Vreni Peterer stiess und diese anfangs der 1970er Jahre vergewaltigte.
Vertuschen und versetzen war gang und gäbe
Dieses «Vertuschen und Versetzen» war innerhalb der römisch-katholischen Kirche gang und gäbe. Dies belegt die im September 2023 erschienene Pilotstudie des Historischen Seminars der Universität Zürich zur Geschichte sexuellen Missbrauchs im Umfeld der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz seit Mitte des 20. Jahrhunderts: «Eine zentrale Strategie war die Versetzung von fehlbaren Priestern – sowohl innerhalb der Schweiz als auch ins Ausland. Damit sollte die öffentliche Thematisierung von Missbräuchen unterbunden und das gesellschaftliche Wissen um die Vergehen von katholischen Klerikern und anderen Angestellten eingeschränkt werden» (Pilotstudie, S.83).
Erst nach Veröffentlichung der Pilotstudie im Jahr 2023 sahen sich heutige Bischöfe bemüssigt, die eigenen Verfehlungen und diejenigen ihrer Vorgänger anzuerkennen. Bischof Markus Büchel beispielsweise entschuldigte sich für sein Verhalten im Fall eines anderen straffällig gewordenen Pfarrers erst auf Druck der Öffentlichkeit.
Betroffene von sexuellem und spirituellem Missbrauch leiden meist bis ins Erwachsenenalter unter den Übergriffen. So auch Sandra Bischof-Cavelty. Sie wurde ebenfalls Opfer von W.B., dem Vergewaltiger von Vreni Peterer.
Dieser rief sie und andere Mädchen aus ihrer Klasse im Religionsunterricht jeweils zu sich an sein Pult, wo die Kinder seine Fragen beantworten mussten. Unter dem Pult, unsichtbar für die Klassenkameraden, berührte Pfarrer W.B. Sandra unsittlich. Sandra erzählte zu Hause von den Berührungen des Pfarrers. Doch ihre Eltern zeigten die damals übliche Reaktion auf Missbrauchsberichte der eigenen Kinder: «Der Pfarrer, der Lehrer und der Gemeindepräsident machen so etwas nicht!» Damit waren die Vorfälle für sie und andere Eltern abgeschlossen.
Zum Schutz – Stecknadeln unter den Röcken
Später erfuhr Sandra Bischof-Cavelty, dass andere Mütter betroffener Kinder gemeinsam nach St. Gallen gefahren waren, um dem damaligen Bischof von den Übergriffen durch W.B. zu erzählen. Dieser unternahm jedoch nichts und liess W.B. weiter gewähren.
Zwar setzten sich Sandra und die anderen Mädchen der Klasse zur Wehr, indem sie Stecknadeln unter ihren Röcken befestigten, an denen sich der Pfarrer stach. Doch der Schaden an Sandras Seele war angerichtet: «Ich habe Mauern um mich herum aufgebaut und alle Gefühle weggesperrt», erinnert sich die heute 57-Jährige. «Mein Leben war wie eine einzige gerade Linie – da gab es keine Hochs und Tiefs mehr, keine Tränen und keine Wut.»
«Die 1002 Fälle sind ein Hohn»
Sandra Bischof-Cavelty machte eine Therapie und lernte, das Erlebte in ihr Leben zu integrieren. «Es war harte Arbeit und ich habe oft geweint», erinnert sie sich. «Aber es hat sich gelohnt!» Heute fühle sie sich wieder lebendig und gebe sich selbst auch nicht mehr die Schuld für das, was der Pfarrer ihr angetan habe, erzählt sie. Die von der Pilotstudie aufgeführten 1002 Fälle seien für sie allerdings «ein Hohn». Schliesslich seien nur schon in ihrem Dorf Altenrhein so viele von den Missbräuchen betroffen.
Vreni Peterer hat ihren Seelenfrieden gefunden
Am Anfang der Aufarbeitung ihrer Geschichte hatte Vreni Peterer ihr Ziel formuliert: Sie wollte ihren «Seelenfrieden finden». Das sei ihr gelungen, erzählt sie heute. Durch ihre Arbeit als Präsidentin der Interessengemeinschaft für Missbrauchsbetroffene im kirchlichen Umfeld (IG MikU) kann sie andere Betroffene unterstützen, die Taten zu melden und das Erlebte aufzuarbeiten. Sie setzt sich für deren Bedürfnisse bei der Schweizer Bischofskonferenz und anderen römisch-katholischen Gremien ein. Und sie gibt all jenen Missbrauchsbetroffenen eine Stimme, die am Erlebten zerbrochen sind.