Anita war fünf Jahre alt, als sie mit ihrer Familie in die Evangelische Gemeinde Hof Oberkirch in Kaltbrunn zog und dort die Privatschule besuchte, die Jürg Läderach mitgründete. Denkt sie heute daran zurück, steigt in ihr wieder die Angst auf.
«Sie wirkt am stärksten nach», sagt Anita im «Club». Die Angst vor dem Teufel, die Angst, Fehler zu machen. Denn dann griffen die Prediger zum Gürtel und schlugen die Kinder auf ihr entblösstes Hinterteil.
Anita hatte in der Schule ihre eigene Strategie entwickelt: «Ich war ein gutes Schäfchen, schüchtern und leise.» Sie selber wurde an der Schule nicht geschlagen, zu Hause aber ist auch sie «drangekommen» – wenn die Schule angerufen hatte. Dann mussten ihre Geschwister Klavier spielen, damit man ihre Schreie nicht hört.
Kinder müssen gezüchtigt werden, um ein gottgefälliges Leben zu führen, wurde in Hof Oberkirch gepredigt. Niemand ausserhalb der Gemeinde durfte davon erfahren, erzählt Anita. «Sonst werden deine Eltern von der Polizei abgeholt», drohte man den Kindern.
Auch bei Philipp Höhener prägte Angst die Kindheit. Seine Eltern gehörten zur Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten und schickten ihn samstags in die Sabbatschule. «Das schlechte Gewissen sass mir im Nacken. Wenn ich etwa meinte, dass ich nicht genug gebetet habe», sagt er.
Mir sind die Tränen gekommen, als ich die Schriften gelesen habe.
Höheners Eltern standen unter Druck, ihn zu schlagen – so verlangten es die Schriften. Diese gehen davon aus, dass ein Kind böse zur Welt kommt. Das Böse, der Ungehorsam, muss ihm mit der Rute ausgetrieben werden, damit es nicht ins Höllenfeuer kommt.
«Mir sind die Tränen gekommen, als ich die Schriften gelesen habe», erzählt Höhener. Da heisst es etwa, dass ein Kind, das vom Weg abgekommen ist, den Eltern vor dem Jüngsten Gericht vorwirft: «Warum seid ihr nicht härter mit mir gewesen? Weshalb habt ihr mich nicht geschlagen? Dann wäre ich jetzt gerettet.»
Im Leben der beiden Betroffenen gab es einen Moment, an dem sie wussten, sie müssen weg. Bei Höhener war es, als er begann, Widersprüche in seiner Glaubenslehre festzustellen. Bei Anita, als sie erstmals ins Gymnasium ging, ungeschminkt und mit langem Rock. Bis dahin hatte sie kaum Kontakt zur Aussenwelt und glaubte, dass der Mensch von Gott erschaffen wurde. Im Biologieunterricht hörte sie etwas anderes.
Anita wagte den Ausstieg, nachdem sie in Zürich ein Architekturstudium begonnen hatte. Bei Geschwistern hatte sie schon gesehen, was auch sie erwartete: Sie wurde von ihrer Familie verstossen. Und weil sie kein Geld mehr von ihr bekam, trägt sie heute schwer an ihren Schulden.
Höhener hatte ebenfalls zu kämpfen: «Mir hat es den Boden unter den Füssen weggezogen.» Er, der gelernte Krankenpfleger, war schon vor dem Ausstieg ins Schlingern geraten. Als alles zusammenbrach, an das er glaubte, war er im freien Fall.
Glauben sie heute noch an Gott? Anita verneint. Sie wisse nicht einmal mehr, ob es überhaupt einen Gott gebe. Höhener hat für sich eine klare Linie gefunden: Spiritualität ja, Glaube nein.