In der bestens organisierten, wohlbehüteten und verwöhnten Schweiz sind echte Abenteuer Mangelware. Genau das reizte mich an dieser Reise ohne Geld. Wie weit würde ich kommen und wie gastfreundlich sind die Leute? Schnell zeigte sich: Wenn man den Mut hat, zu fragen, öffnen sich viele Türen.
Sei es beim Bauer in Merishausen (der ärmsten Schaffhauser Gemeinde) oder beim Villen-Besitzer an der Zürcher Goldküste in Küsnacht (der reichsten Zürcher Gemeinde). So erhielt ich Essen oder ein Bett für die Nacht gegen Arbeit.
Manchmal brauchte es bloss einen Daumen, um weiterzukommen. So reiste ich meist problemlos zu Fuss und per Autostopp durch die Schweiz vom nördlichsten Punkt im schaffhausischen Bargen bis zum südlichsten Punkt in Chiasso. Länger als fünf bis zehn Minuten habe ich selten gewartet am Strassenrand, bis mich eine Autofahrerin oder ein Autofahrer mitnahm.
Russischer Millionär als Privatchauffeur
Das überraschendste Autostopp-Erlebnis ereignete sich in Feldmeilen. Plötzlich hielt ein schicker Mercedes am Strassenrand, ein gepflegter Mann im Anzug am Steuer sagte, er könne mich bis Männedorf mitnehmen. Wie sich während der Fahrt herausstellte, war der Fahrer ein russischer Millionär mit Villa am See.
Gefilmt werden wollte er nicht. Er fragte mich aber, wohin denn meine Reise gehe. Und steckte mir spontan zehn Franken für ein Zugbillett zu. Auf die Frage, wieso er mich überhaupt mitgenommen habe und wieso er mir Geld schenke, meinte er nur trocken: «Ich habe selber schon schwierige Zeiten erlebt und habe mir geschworen, anderen Menschen zu helfen, wenn es mir wieder besser geht.» Eine schöne Geste und ein guter Leitsatz.
Beim «Fötzelen» Geld gefunden
So wurde mir, der eigentlich ohne Geld durch die Schweiz reiste, Geld zugesteckt, in einem Fall habe ich es aber auch gefunden. Als ich mir beim Marsch von Flüelen nach Erstfeld mein Nachtessen verdienen wollte, machte ich Halt in der Gotthard-Raststätte. Ein Mitglied der Geschäftsleitung erklärte mir, ich könne rund um die Raststätte den Abfall zusammenlesen und würde dafür ein Picknick erhalten.
So machte ich mich im strömenden Regen mit Abfallsack auf zum «Fötzelen» im Aussenbereich des Restaurants. Nebst Servietten, Zuckersäckchen und Quittungen fand ich auch einen Kaffeelöffel. Und als Krönung glänzte unter einem Tisch im Kies ein Fünfliber. Auf dieser Reise ohne Geld ein euphorisierendes Gefühl. Ich fühlte mich schon fast wie ein König, als ich dieses Münz aus dem Kies klaubte und mir im Tankstellen-Shop noch ein Dessert kaufen konnte. So schnell kann sich das Verhältnis zu Geld verändern, wenn man einmal ohne auskommen muss.
Auf dem Parkplatz von Weltpolitik eingeholt
Am dritten Tag meiner Reise wollte ich im Schwerverkehrszentrum Erstfeld (UR) übernachten. Hier machen Fernfahrer aus ganz Europa Halt auf ihrer Reise durch den Kontinent. Darunter viele Osteuropäer. Von ihnen erfuhr ich, dass sie meist nur 2000 Franken im Monat verdienen. Mit einem solchen Lohn ist es für sie unmöglich, auswärts essen zu gehen in der reichen und teuren Schweiz. Deshalb nehmen die meisten von ihnen ihre eigenen Lebensmittel mit und kochen ihr Nachtessen in der Kabine.
Bei einem tschechischen Chauffeur durfte ich im leeren Laderaum in meinem Schlafsack übernachten. Da er anderntags Richtung Norden fuhr, musste ich morgens um fünf Uhr aufstehen und eine andere Fahrgelegenheit Richtung Tessin suchen.
So kam ich ins Gespräch mit Valerii Korotkyi, einem ukrainischen Chauffeur. Er offerierte mir selbst gekochten Kaffee und Gipfeli und nahm mich mit durch den Gotthard. Auf der Fahrt erzählte er mir davon, dass seine Frau und die zwei kleinen Kinder immer noch in der Ukraine lebten. Noch sei ihr Dorf vom Krieg verschont, doch die Raketen würden fast jeden Tag nur wenige hundert Meter über den Hausdächern vorbeidonnern.
Weil er gesundheitlich angeschlagen ist, muss er keinen Militärdienst leisten und ist jeweils zwei Monate am Stück kreuz und quer durch Europa unterwegs als Fernfahrer, bevor er wieder einen Monat bei seiner Familie ist. Eine schwierige Zeit für ihn. Er hofft auf baldigen Frieden und dass er eine gut bezahlte Arbeit in der Ukraine finden würde. Doch dies sei schwierig. Als studierter Ingenieur würde er dort nur halb so viel verdienen wie als Lastwagenfahrer für das litauische Unternehmen, für welches er Waren spediert.
Was haben wir doch für ein Glück in der Schweiz, in Frieden zu leben und häufig einen Beruf auszuüben, welcher spannend ist und gut bezahlt wird.
Unerwartete Geschenke
Nicht immer hat alles so geklappt, wie ich mir das vorgestellt hatte. In Lugano wollte ich im Villen-Quartier am noblen Monte Brè übernachten, biss dort aber auf Granit. Die Villen-Besitzer zeigten sich sehr reserviert. Stundenlang klapperte ich Haus um Haus ab, wurde aber überall abgewiesen.
Schliesslich kam ich auf der Strasse ins Gespräch mit Adrian Schnyder, ein Tessiner mit Deutschschweizer Eltern. Er erklärte mir, dass er mich zwar selber nicht beherbergen könne, eine Kollegin könne aber eventuell aushelfen.
Unglaublich, wie diejenigen, die selber wenig haben, so viel geben.
Nach einem kurzen Telefonat war die Sache geritzt. Spontan bot er mir an, mich zu Fuss zu ihr zu lotsen. So marschierten wir eine Stunde quer durch Lugano und gelangten schliesslich in eine ältere Blocksiedlung am anderen Stadtrand. Hier empfing mich Tumi Menegalli, eine zurzeit arbeitslose Modedesignerin.
Obwohl sie selber jeden Franken umdrehen muss und Sozialhilfe bezieht, kochte sie mir ein wunderbares Nachtessen und liess mich auf ihrem Sofa übernachten. Zum Abschied schenkte sie mir gar noch T-Shirts und eine Dächlikappe aus ihrer eigenen Modekollektion. Unglaublich, wie diejenigen, die selber wenig haben, so viel geben.
Das Gleiche passierte mir beim italienischen Tankwart, welcher als Grenzgänger in Chiasso an einer Tankstelle arbeitet. Hier wollte ich gegen Arbeit mein letztes Mittagessen verdienen. Er sagte mir, seine Chefin sei nicht hier und er könne mir deshalb nicht einfach Arbeit geben. Doch er steckte mir spontan ein Zehner-Nötli zu und meinte, ich solle mir ein Picknick kaufen. Auf mein Angebot, ich könne aber wenigstens den Platz wischen oder das WC putzen, meinte er nur, ich sei ja heute schon weit gewandert und er gebe mir deshalb frei. Einfach unglaublich, diese Gastfreundschaft.
Meine Reise ohne Geld durch die Schweiz – oftmals anstrengender und unplanbarer, als wenn ich ein Portemonnaie dabei gehabt hätte. Aber definitiv auch bereichernder und herzerwärmender, was ich alles an Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft erleben durfte.