National- und Ständerat haben beschlossen, Menschen mit Behinderung die politische Teilhabe zu ermöglichen. Bislang wurde dies Schweizerinnen und Schweizern, «die wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigt sind», verwehrt. Die Philosophin Barbara Bleisch über einen wegweisenden Parlamentsentscheid, der die Inklusion in der Schweiz ein Stück voran bringt.
Ist der Entscheid Ausdruck eines gesellschaftlichen Wandels?
Ja. Ein Begriff wie «geisteskrank» würde heute nicht mehr Eingang in die Verfassung finden. Vor allem aber wurde die Beweislast umgedreht: Mit welchem Recht schliesst die Schweiz Menschen von politischer Teilhabe aus? Immerhin heisst es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in Art. 21 (1): «Jeder hat das Recht, an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten seines Landes unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter mitzuwirken.» Der Entzug des Stimmrechts, wie er heute in der Schweiz praktiziert wird, ist diskriminierend und unterteilt die Schweizer Bürgerinnen und Bürger in zwei Klassen.
Ist der Entscheid eine Meilenstein für die Inklusion?
Rechtsgleichheit bedeutet nicht automatisch gesellschaftliche Teilhabe. Die Schweiz wurde in den letzten Jahren immer wieder von der UNO gerügt, die Inklusion zu wenig entschlossen voranzutreiben. Betroffene und ihre Angehörigen kämpfen im Alltag oftmals mit handfesten Dingen wie dem Fehlen von Rampen, Kostengutsprachen oder Zugang zu Schulen. Das behindert sie in ihrem Alltag stärker als das fehlende Stimmrecht. Dennoch ist der Entscheid in Bundesbern mehr als ein Symbol: Gleichstellungsmassnahmen bedürfen eben auch der rechtlichen Absicherung.
Von «Geisteskranken» zu «Menschen mit Behinderung»: Was sagen solche Labels über unsere Gesellschaft aus?
Der Begriff der «Krankheit» ist nie rein beschreibend, sondern transportiert immer auch Werturteile: Man kann damit zum Ausdruck bringen, dass man sich subjektiv schlecht fühlt, dass man einen Versicherungsanspruch geltend machen will oder auch etwas abwerten, wenn wir etwa sagen, eine bestimmte Regelung sei «einfach nur krank». Menschen mit einer Behinderung fühlen sich aber nicht zwingend krank, und wir haben schon gar kein Recht, ihren Zustand abzuwerten. Dass der Begriff «Geisteskranke» aus der Verfassung verschwindet, ist höchste Zeit.
Manchmal wird aber auch der Begriff «Menschen mit einer Behinderung» kritisch gesehen. Im angelsächsischen Raum wird manchmal «differently abled» anstelle von «disabled» verwendet, um deutlich zu machen, dass Andersheit nicht zwingend schlechter sein muss, sondern auch mit anderen Begabungen einhergehen kann. Nicht alle sind aber mit solchen Sprechweisen glücklich, weil es die Schwierigkeiten, mit denen viele kämpfen, die nicht der Norm entsprechen, schönrede. Das zeigt: Eine inklusive Gesellschaft bedarf des Dialogs mit den Betroffenen und dem echten Interesse an ihren Bedürfnissen.
Hat der Entscheid weitergehende Auswirkungen?
Möglich ist es. Die Gegner der Vorlage haben unter anderem damit argumentiert, dass Menschen mit einer Beeinträchtigung nicht hinreichend kompetent seien, sich ein Bild über Abstimmungsvorlagen zu machen. Unter anderem aus demselben Grund wird auch gegen eine Senkung des Stimmrechtsalters auf 16 votiert. Aber wer meint, dass das Stimmrecht bestimmte Fähigkeiten voraussetzt, müsste fairerweise für einen Fähigkeitstest für alle Wahlberechtigten plädieren. Wer kann von sich behaupten, immer alle Vorlagen ganz zu verstehen?