«Hier bin ich mit 62 km/h die Böschung hinunter», sagt Fabian Kappeler und zeigt auf eine unscheinbare Stelle im Wald bei Gachnang im Thurgau. «Ich erinnere mich noch, wie ich am Boden lag und nach meinen Beinen suchte», erzählt er über seinen Töffunfall vor eineinhalb Jahren.
Es war ein kalter Novembermorgen, als er auf dem Weg zur Berufsschule die Kontrolle über sein Motorrad verlor. Der damals 16-Jährige hatte erst wenige Wochen zuvor den Lernfahrausweis erhalten und bereitete sich auf die praktische Prüfung vor. Dazu sollte es nicht mehr kommen.
Fabians bester Freund, Alessio Feusi, fand ihn schwer verletzt am Unfallort. Kurz nach dem Sturz hatte Fabian ihn angerufen. «Ich dachte zuerst, sein Bein sei unter dem Töff eingeklemmt», erinnert sich Alessio. «Und ich hoffte, dass wir nicht zu spät zur Schule kommen.»
Sie sagte mir, dass Fabian wahrscheinlich nie wieder laufen können wird.
An der Unfallstelle fand Alessio seinen Freund nur, weil Fabian mit der Taschenlampe seines Handys auf sich aufmerksam machte. «Da wurde mir klar, dass der Unfall schwerwiegender war, als ich gedacht hatte», sagt er.
Wie schwer Fabians Verletzungen wirklich waren, erfuhr Alessio jedoch erst später – von seiner Mutter, die mit Fabians Familie in Kontakt stand, während dieser im Spital lag. «Sie sagte mir, dass Fabian wahrscheinlich nie wieder laufen können wird. Das war ein heftiger Schlag.» Seither ist Fabian auf den Rollstuhl angewiesen.
Das Risiko, schwer oder tödlich zu verunfallen, ist mit dem Motorrad über 80-mal höher als mit dem Auto. Besonders gefährdet sind Jugendliche und junge Erwachsene: Bezogen auf die Bevölkerungszahl verunfallen 18- bis 24-Jährige rund doppelt so häufig schwer wie ältere Verkehrsteilnehmende. Auffällig ist vor allem die Entwicklung bei den Jugendlichen: Seit 2021 hat sich die Zahl der schweren Unfälle bei 16- und 17-Jährigen mehr als verdoppelt.
Neue Regelung für Motorradausweis seit 2021
Ein möglicher Grund für diesen Anstieg: Seit 2021 dürfen bereits 16-Jährige sogenannte 125er-Motorräder fahren – Maschinen mit bis zu 15 PS, die Geschwindigkeiten von bis zu 120 km/h erreichen. Zuvor lag das Mindestalter bei 18 Jahren. Mit dieser Anpassung wurde das Schweizer Gesetz an die EU-Regelung angeglichen.
Das Bundesamt für Strassen (ASTRA) bestätigt: Das Unfallrisiko bei 16- und 17-Jährigen ist erhöht und könnte neben der Erhöhung des Mindestalters damit zusammenhängen, dass junge Menschen über weniger Fahrpraxis verfügen, tendenziell risikofreudiger sind und ihre eigenen Fähigkeiten eher überschätzen. Das ASTRA möchte nun mögliche Massnahmen prüfen, wie zum Beispiel Änderungen in der Ausbildung.
Das hohe Risiko ihres Hobbys ist den «Fairnessridern» bewusst. Zum Saisonstart lassen sie in der Luzerner Bikerbar «Ace Café» ihre Motorräder und sich selbst von einem reformierten Pfarrer und einem römisch-katholischen Diakon mit Weihwasser segnen – in der Hoffnung auf Schutz und unfallfreie Fahrten.
Die Segnung ist für viele eher ein symbolischer Brauch als Ausdruck tiefer Religiosität. Die «Fairnessrider» nennen sich auch so, weil ihnen sicheres und risikobewusstes Fahrverhalten wichtig ist. Sie sind eine von mehreren jungen Töff-Communitys in der Schweiz, die sich über WhatsApp vernetzen und gemeinsame Ausfahrten – sogenannte Rideouts – organisieren. Dabei kommen nicht selten über 100 Motorradfahrerinnen und -fahrer zusammen.
Viele von ihnen sind verantwortungsbewusst unterwegs. Doch es gibt immer wieder einzelne, die im öffentlichen Strassenverkehr sogenannte Wheelies – also Fahrten auf dem Hinterrad – zeigen und damit sich selbst und andere gefährden. Die «Fairnessrider» gründeten sich genau aus diesem Grund. Vize-Vereinspräsident Mirco Jesenek hatte wiederholt erlebt, wie auf Rideouts anderer Gruppen durch solche Stunts andere Verkehrsteilnehmer in Gefahr gebracht wurden, deshalb wechselte er in diese Community.
Das knappe Überholen gibt dir schon einen Kick.
Einer, der mit riskantem Fahrverhalten auffällt, ist Coco*. Der 22-Jährige musste bereits zweimal seinen Führerausweis abgeben – einmal wegen eines Raserdelikts, ein anderes Mal wegen eines Wheelies in einem Dorf. Auf das Raserdelikt angesprochen, rechtfertigt er sich: «Ich wurde ausgebremst und musste schnell überholen, weil mir ein Auto entgegenkam.» Gleichzeitig gibt er offen zu, dass er den Adrenalinkick brauche. «Das knappe Überholen gibt dir schon einen Kick», sagt er.
Solche Manöver zeigt Coco regelmässig auf seinen Social-Media-Kanälen – und ist damit nicht allein. Auf Plattformen wie Instagram und Tiktok entsteht ein ambivalentes Bild: Zwar fährt die Mehrheit der jungen Motorradfahrerinnen und -fahrer verantwortungsvoll, doch immer wieder tauchen Videos von waghalsigen Stunts im öffentlichen Verkehr auf.
Die, die das schauen, wissen nicht, wie oft diese Person schon gestürzt ist.
«Im Strassenverkehr hat so etwas nichts zu suchen», sagt Fahrlehrer Hanspeter Schweizer. Er warnt davor, dass solche Posts für junge Töfffahrerinnen und Töfffahrer ein Anreiz sein können, solche Manöver selbst auszuprobieren. Was dabei oft vergessen gehe: «Die, die das schauen, wissen nicht, wie oft diese Person schon gestürzt ist.»
Mittlerweile folgen Coco* über 24’000 Menschen auf seinen Social-Media-Kanälen. Diese wachsende Reichweite freut ihn, gleichzeitig macht sie ihn aber auch nervös. «Je grösser man wird, desto mehr Menschen zieht man in das Ganze mit hinein», sagt er. Deshalb hat er sich vorgenommen, mit riskanten Posts aufzuhören. Zugleich fügt er hinzu: «Ich werde wahrscheinlich noch ein bis zwei Stunts machen, aber wohl nicht mehr vor der Kamera.»
Social-Media-Posts als Beweismittel
Mehrere Kantonspolizeien haben gegenüber SRF Impact bestätigt, dass Social Media in der Töffszene eine grosse Rolle spiele. Junge Motorradfahrende könnten sich dort zu exzessivem Fahren anspornen. Zudem würden solche digitalen Spuren die Polizei immer wieder bei der Aufklärung von schweren Verkehrs- und Raserdelikten unterstützen und als Beweismittel vor Gericht gelten.
Fabian und Alessio freuten sich zwar, als sie mit 16 Jahren erstmals 125er-Motorräder fahren durften – rückblickend halten sie das aber für zu früh. «Du kannst nach der Theorieprüfung direkt auf den Töff steigen und 120 km/h fahren, ohne dass dich jemand aufhält», sagt Alessio. Fabian ergänzt: «Mit 16 hast du noch nicht den nötigen Respekt vor solchen Fahrzeugen.»
Der Zürcher Fahrlehrerverband und die Organisation Roadcross waren gegen die Einführung der neuen Regelung, während sich die Föderation der Motorradfahrer der Schweiz, Swiss Moto, dafür ausgesprochen hatte.
Fabian sagt, er hatte Glück im Unglück. Hätte er sein Handy nicht dabeigehabt und Alessio rechtzeitig anrufen können, wäre er wohl gestorben: «Der linke Lungenflügel war kaputt, ich lag mit dem Kopf nach unten und musste irgendwann auch Blut erbrechen. Wahrscheinlich wäre ich dann erstickt», erzählt er.
Trotz allem fährt Alessio weiterhin Motorrad – wegen des unvergleichlichen Freiheitsgefühls. Er betont jedoch, dass er heute vernünftiger fährt und immer Schutzkleidung trägt. Auch Fabian würde wieder auf ein Motorrad steigen, wenn er könnte: «Es ist nach wie vor ein Traum für mich.»
* Name der Redaktion bekannt