Als in diesem Jahr tausende Zünfter um den Böögg standen und miterlebten, wie er nicht angezündet wurde, stand auch die 25-jährige Michelle Steiner in Tracht und mit gebanntem Blick auf dem Sechseläutenplatz. Dicht an dicht zwischen Freunden und Familie erlebte die Ehrendame der «Zunft zum Weggen» diesen historischen Moment mit. An diesem Tag kommt für sie alles zusammen, was Steiner liebt: das Zunftleben, das Gesellige, die Tradition.
Im Alter von fünf Jahren lief Michelle Steiner zum ersten Mal am Umzug mit. Ihr Urgrossvater eröffnete eine Bäckerei und so kam es, dass ihre männlichen Vorfahren seit jeher Mitglieder der «Zunft zum Weggen» sind.
Diese Entscheidung liegt nicht in meiner Hand und ich weiss auch gar nicht, ob ich beitreten würde, wäre es mir gestattet.
Heute fiebert die Urenkelin des einstigen Bäckers so sehr auf das Sechseläuten hin, dass sie gar ihr Auslandssemester im Studium so einplante, dass sie am Zürcher Traditionsanlass teilnehmen kann und schliesslich gar ihr Nageldesign auf das Frühlingsfest abstimmt – für das Sechseläuten muss alles stimmen. Doch das Zunftleben hat für Steiner bald ein Ende: Als Frau darf sie nicht vollwertiges Mitglied ihrer Zunft werden.
Mitlaufen, aber nicht mitmachen
Erst drei Zürcher Zünfte haben verlauten lassen, dass sie sich den Frauen öffnen möchten – unter unterschiedlichen Bedingungen – Steiners Zunft gehört nicht dazu. Aber sie sagt: «Diese Entscheidung liegt nicht in meiner Hand und ich weiss auch gar nicht, ob ich beitreten würde, wäre es mir gestattet.»
Als Vorstandsmitglied der Interjungzünftigen Vereinigung (IZV) engagiert sich Steiner seit Jahren für die Szene, ist massgeblich daran beteiligt, junge Zünfterinnen und Zünfter miteinander zu vernetzen und betreibt damit Nachwuchsförderung im Namen der Tradition.
Ihre männlichen Kollegen, die Gesellen, sind im Alter, in welchem sie bei ihrer Zunft Antrag auf Aufnahme stellen dürfen, entfernen sich damit aber immer mehr von der IZV und steigen bei den Grossen ein. So wird es auch für Steiner bald Zeit zu gehen: «Ich werde im nächsten Jahr wohl zum letzten Mal als Ehrendame mit der ‹Zunft zum Weggen› mitlaufen und danach das Sechseläuten von aussen geniessen.» Das mache ihr nichts aus, das sei so.
Frauenfrage auch eine Generationenfrage
Die Zürcher Zünfte wollen es langsam angehen, es brauche Zeit, ist der Grundtenor. So sieht es nicht nur Michelle Steiner, sondern das ist auch unter den Gästen auf dem Lindenhof zu spüren, wo der erste offizielle Anlass des diesjährigen Sechseläuten stattfand.
«Irgendwann werden gewisse Zünfte Frauen als Mitglieder aufnehmen und andere werden sich noch geschlossen halten», sagt ein Gast und Zünfter, «das muss man jeder Zunft selber überlassen». Ein anderer Besucher sieht darin eine Generationenfrage: «Bei den Jungzünftern sieht man bereits, dass Zunfttöchter und Zunftsöhne zusammenkommen», sagt er. Bei der älteren Generation müsse das Umdenken noch stattfinden.