«Ich sass zu Hause in meinem Kinderzimmer und verletzte mich zum ersten Mal selbst. Dann riss ich die Türe auf und weinte so laut, dass meine Eltern mich hörten. Da wusste ich: Etwas stimmt mit mir nicht.» Stephanie Wenger lebt seit vielen Jahren mit der Diagnose Borderline. Der Alltag der Mittdreissigerin gleicht einer emotionalen Achterbahnfahrt. Ihre Gefühle können von einem Hoch unmittelbar ins Tief wechseln. Oft weiss sie selbst nicht, warum.
Wenger besucht über Jahre hinweg verschiedene Therapien und lässt sich in einer Klinik behandeln. Heute ist sie stabil. So stabil, dass sie anderen Menschen mit einer psychischen Erkrankung helfen kann. Für sie ist es wichtig, dass Nicht-Betroffene wissen: «Ein Mensch mit Borderline-Persönlichkeitsstörung ist wie jeder andere auch.»
Musik statt Selbstverletzung
Die Auf und Abs der Gefühle müssen die Betroffenen selbst regulieren. «Früher machte ich das ganz lange mit dysfunktionalen Verhaltensweisen wie Drogen- oder Alkoholkonsum und Selbstverletzung.» Heute findet Wenger neue Methoden, um sich und andere langfristig zu schützen. Beispielsweise helfe Wenger die Kälte, sagt sie. Sie stelle sich mit nackten Füssen auf den Balkon oder lege sich ein Coldpack auf den Nacken.
Ein Mensch mit Borderline-Störung ist wie jeder andere auch.
Eine weitere Methode, um ihre Gefühle zu regulieren, sei die Musik. Wenger schreibt Lieder, um ihre Vergangenheit zu verarbeiten. «Die Musik lässt mich das ausdrücken, was ich manchmal nicht erklären kann.» Gerade in schwierigen Momenten greift sie zu ihrer Gitarre und komponiert: «Wenn meine Gedanken stark durcheinander sind, kann ich beim Schreiben alles loslassen. Ich bin gezwungen, meine Gedanken zu sortieren, und das funktioniert dann wie eine Art Selbsttherapie.»
Das Buch ihrer Lebensgeschichte soll anderen helfen
Wenger macht nicht nur für sich selbst Musik. Zurzeit schreibt sie ein Lied für eine Kundin. Diese litt zehn Jahre unter Alkoholsucht. Nun möchte sie mit dem Kapitel abschliessen. Das Lied solle ihr helfen, sich daran zu erinnern, wie weit sie es schon geschafft habe, so Wenger. «Für andere ein Lied zu schreiben, ist so erfüllend. Ich kann immer wieder etwas von anderen lernen.»
Neben ihren Liedern schreibt Wenger auch Texte. 2022 hat sie ihr Buch «Mittelweg» veröffentlicht. Darin hat sie ihre Krankheitsgeschichte in Worte gefasst. «Bereits mit 14 habe ich angefangen zu schreiben, doch dann merkte ich, dass ich noch nicht viel zu erzählen habe», so die «Aktivistin für mentale Gesundheit», wie sie sich nennt. Jetzt sei die Zeit gekommen. «Und ich sehe, wie andere von meiner Geschichte profitieren können.» Stephanie Wenger unterstützt immer wieder Menschen mit ähnlichen Krankheitsbildern. Sie habe aber keine Ausbildung gemacht. Sie sei «eine Expertin aus Erfahrung».
Nur ich selbst kann mir helfen.
Wenger war früher stark auf andere Menschen angewiesen. Sie habe immer das Gefühl gehabt, ihr Umfeld müsse ihr helfen: die Psychologin, der Arzt, die Freunde. «Ich habe mich abhängig gemacht. Ich habe lange gebraucht, bis ich gemerkt habe, dass ich mir nur selbst helfen kann.»
Heute hat sie glücklicherweise ein Umfeld, dem sie vertrauen kann und in dem sie sich wohlfühlt. Eines, das ihr auch in schwierigen Zeiten zur Seite steht. Menschen, bei denen sie sich ausweinen, mit denen sie aber auch lachen kann.