In der Kirche San Bernardino schwebt gerade Jesus in die Höhe – gut befestigt an einem Seil. Ein Restaurator erklärt, was hier vor sich geht: «Mit einem Flaschenzug ziehen sie Jesus wieder hinauf in jene Nische, wo er bis vor zehn Jahren stand.»
Wir bauten zuerst eine Kirche der Altstadt wieder auf, um wenigstens einen Ort für Hochzeiten oder für Beerdigungen zu haben.
Nach dem Erdbeben holte man die Jesus-Statue herunter, weil die Kuppel darüber und viele andere Teile der Kirche schwer beschädigt worden waren. Von all diesen Schäden sieht man heute rein gar nichts mehr. Nach Jahren aufwändiger Restaurierung erstrahlt San Bernardino wieder im alten, barocken Glanz.
San Bernardino ist nur ein Beispiel unter vielen: An allen Ecken und Enden der Stadt wird gehämmert, gefräst, gesägt. Staub liegt in der Luft. Und trotzdem sind aus etwa der Hälfte der engen Gassen und Strassen die Bauarbeiter bereits wieder abgezogen. Viele Häuser sind restauriert oder wiederaufgebaut.
Viele Dörfer sind noch immer unbewohnt
Vor allem ausserhalb des Stadtzentrums und in den umliegenden Gemeinden sind die Spuren des schweren Bebens aber noch immer deutlich sichtbar. Es gibt kleine Gemeinden im Umland, in denen noch immer keiner wohnt. Und der Wiederaufbau staatlicher Gebäude, etwa der Schulen, kommt überall kaum vom Fleck.
Die Schulen sehen aus wie vor zehn Jahren. Nicht einmal die Trümmer hat man weggeräumt.
«Die Kinder L'Aquilas werden noch immer vorwiegend in Provisorien unterrichtet», klagt Silvia Frezza, sie ist Lehrerin im Vorort Pagliare di Sassa. «Die Schulen sehen aus wie vor zehn Jahren. Nichts ist passiert, nicht einmal die Trümmer hat man weggeräumt», sagt Frezza. Für sie und ihre Schüler heisst das: Unterricht im Pavillon, unter einem Wellblechdach. Doch dieses Dach sei nicht dicht. Im Sommer sei es heiss, im Winter eiskalt.
Warum nur haben viele Private ihre Häuser längst saniert, der Staat aber nicht? Die Lehrerin antwortet auf diese Frage, dass es nicht am fehlenden Geld liege. Schuld sei vielmehr der Staat, der unfähig sei, das zur Verfügung gestellte Geld auszugeben.
Der Wiederaufbau kostet 11 Milliarden Euro
Salvatore Provenzano versteht diese Kritik und sagt trotzdem, dass der Wiederaufbau übers Ganze gesehen auf gutem Weg sei. Denn der italienische Staat sei in grosszügiger Weise für die meisten Erdbebenschäden aufgekommen.
«Auch darum ist in der Stadt die Sanierung der privaten Gebäude nahezu abgeschlossen», sagt Provenzano, der weitere, sehr positive Fakten präsentiert: Von den rund 11 Milliarden Euro, die der gesamte Wiederaufbau koste, seien rund 7 Milliarden bereits verbaut.
Und von den rund 80'000 Leuten, die nach dem Beben kein Dach mehr über dem Kopf hatten und Hilfe brauchten, lebten heute nur noch 8'000 in Provisorien.
Ausschreibungen hängen in der Bürokratie fest
Trotzdem: Auch der Leiter des Büros für den Wiederaufbau gibt zu, dass es bei der Sanierung staatlicher Gebäude hapere: «Dem Staat fehlt das Personal, um die aufwändigen Ausschreibungsverfahren zügig abzuwickeln.»
Auch in Italien müssen alle staatlichen Bauaufträge öffentlich ausgeschrieben werden, um Korruption und Vetternwirtschaft möglichst zu verhindern. In Italien führt das zu überaus komplizierten Verfahren, die wegen Personalmangels aber auch wegen möglicher Rekurse oft irgendwo steckenbleiben. Darum, so Provenzano, stünden diverse öffentliche Bauprojekte still, obschon das Geld eigentlich vorhanden wäre.
Neben der Bürokratie habe die Fokussierung aufs Zentrum den Wiederaufbau der Peripherie verzögert, bestätigt auch Provenzano und er erklärt warum: «Wir wollten das soziale Leben zumindest im Zentrum schnell wieder in Gang bringen.»
Der Beamte nennt dafür ein konkretes Beispiel: «Wir bauten zuerst eine Kirche der Altstadt wieder auf, um wenigstens einen Ort für Hochzeiten oder für Beerdigungen zu haben.» Doch nun gehe es auch mit dem Wiederaufbau an der Peripherie vorwärts.
Viele sind gegangen – für immer
Dass das Zentrum lange Priorität hatte, sieht man. Und trotzdem fehlt es selbst im Herzen der Altstadt noch immer an vielem: Es gibt noch immer kein Postbüro, keinen Gemüsemarkt und nur eine Apotheke. Immerhin haben unterdessen ein paar Restaurants und Cafés wiedereröffnet. In einem sitzt Antonietta Centofanti und trinkt Tee: «Es ist noch immer mühsam in l'Aquila zu leben», sagt die Besitzerin eines Hauses im Stadtzentrum. «Am Abend sind viele der Gassen wie ausgestorben.»
Darum hätten einige der mutigen Geschäftsleute, die vor ein paar Monaten Läden eröffneten, bereits wieder aufgegeben. «Es fehlen die Kunden», sagt Centofanti, denn viele Bewohner hätten l'Aquila seit dem Beben verlassen – wohl für immer.
Tatsächlich: viele Häuser wurden dank grosszügiger staatlicher Unterstützung wiederaufgebaut, doch deren Besitzer leben längst anderswo. Und Mieter lassen sich wegen des Baulärms und der nach wie vor schwachen Infrastruktur kaum finden.
Und so sieht man frisch restaurierte Palazzi, an dessen Türklingeln keine Namen stehen. Nirgends hängt Wäsche zum Trocknen vor den Fenstern. Das Herz dieser Stadt beginnt erst ganz allmählich wieder zu schlagen.