Zum ersten Mal seit vier Jahren läuteten die Kirchenglocken wieder in Europa, als zur elften Stunde am elften Tag des elften Monats also am 11. November 1918 um genau elf Uhr die Geschütze schwiegen. Der Erste Weltkrieg war vorbei. Doch was ist damals am 11. November vor 100 Jahren eigentlich genau passiert? Welche Bedeutung hatte dieser Tag überhaupt? Und welche Auswirkungen hatte das Ende des Ersten Weltkriegs auf die unmittelbaren Geschehnisse in Europa? Klar ist: Der Krieg hat Europa verändert, auf gesellschaftlicher Ebene aber auch auf der Landkarte, wie Stig Förster erklärt.
SRF News: Die Feinde standen sich vier Jahre lang in einem grauenhaften Stellungskrieg mit Millionen von Toten gegenüber. Wie muss man sich diesen 11.11. vorstellen? Totenstille, die Geschütze, die schweigen?
Stig Förster: Man muss sich erst einmal klarmachen: Wir reden von der Westfront. Im Osten sahen die Dinge ja ganz anders aus. Aber es ist richtig: Am 11. 11. um 11 Uhr trat der Waffenstillstand in Kraft, der morgens um 5 Uhr beschlossen worden war. Es wurde dann tatsächlich nicht mehr geschossen. Vielleicht noch einzelne Schüsse.
Einzelne Schüsse. Heisst das, es wurde auch später noch gekämpft?
Es war wirklich fertig. Es wurde nicht mehr gekämpft. Allerdings gab es noch massive Truppenbewegungen. Die Deutschen mussten 192 Divisionen aus Frankreich und Belgien nach Hause bringen und die Alliierten sind den zurückziehenden deutschen Truppen gefolgt. Das bedeutet natürlich, dass die Soldaten nicht alle sofort nach Hause kamen – gerade auch die Soldaten der Siegermächte nicht. Die mussten ja nun noch die Besatzungsaufgaben übernehmen.
Warum eigentlich dieser etwas spezielle Zeitpunkt mit diesem Datum?
Das hängt damit zusammen, dass morgens kurz nach 5 Uhr der Waffenstillstand unterzeichnet wurde, und es gab eine Frist von sechs Stunden, bis er in Kraft tritt. Das war dann eben um 11 Uhr.
Sie sagen, das Waffenstillstandsabkommen war ein Diktat. Was waren denn die Bedingungen?
Im Kern lief es darauf hinaus: Die deutsche Armee musste sich bis hinter den Rhein zurückziehen. Sie wurde weitgehend entwaffnet. Sie musste Tausende von Maschinengewehren, Artilleriegeschützen, grosse Eisenbahnwaggons und auch Tausende von Lokomotiven abgeben, sodass im Grunde das deutsche Heer nicht mehr in der Lage war, ernsthaft Krieg zu führen.
Das führte zu einem verdeckten Militärstreik.
War die deutsche Armee am 11. November militärisch besiegt?
Sie war besiegt. Sie hatte mit der letzten grossen Offensive, die im Frühjahr gescheitert war, alle Siegesaussichten verloren. Dann kamen die grossen Gegenoffensiven, die die Deutschen weiter zurückdrängten und zu schweren Verlusten führten. Noch wichtiger war vielleicht aber die Tatsache, dass mit dem Scheitern der Offensive die letzte Hoffnung zunichte gemacht wurde, dass man diesen Krieg noch gewinnen könne.
Das führte zu einem verdeckten Militärstreik. Viele Soldaten sind einfach nach Hause gegangen. Hinzu kam dann noch eine Grippewelle, die vor allen Dingen auch die deutschen Truppen sehr stark traf, plus die katastrophale Ernährungs- und Versorgungslage. Das Deutsche Reich war militärisch und wirtschaftlich am Ende.
Aber trotzdem gab es Personen und Stellen, die das nicht eingesehen haben. Man kennt diesen Spruch: «Im Felde unbesiegt» und etwas später entwickelte sich aus diesem Umstand dann auch die sogenannte Dolchstosslegende, die deutsche Armee sei unbesiegt gewesen. Verräter in Deutschland hätten der Armee quasi den Dolch in den Rücken gestossen.
Auf der einen Seite ist es gar nicht mal falsch, dass die Armee im Felde unbesiegt war, denn sie stand ja noch tief in Feindesland. Die Truppen waren, obwohl sie geschwächt waren, immer noch in der Lage, Widerstand zu leisten.
Es war also kein Vergleich etwa mit 1945, mit der totalen Niederlage, der bedingungslosen Kapitulation. Die Frage ist allerdings, wozu hätte das geführt? Und das haben auch die militärischen Führer so gesehen. Die drängten darauf, so schnell wie möglich einen Waffenstillstand abzuschliessen.
Geschichte ist niemals eine Einbahnstrasse.
War man sich am 11. November bewusst, dass es für die Deutschen einen wahrscheinlich sehr harten Versailler Friedensvertrag geben wird?
Das war spätestens klar, als man die Waffenstillstandsbedingungen zu sehen bekam. Also Rückzug aller Truppen, Abgabe von Waffen und Zügen, plus natürlich der Tatsache, dass auch der Friedensvertrag von Brest-Litowsk im Osten annulliert wurde. Da war es absehbar, dass die Bedingungen hart sein würden.
Kann man auch sagen, dass an diesem 11. November die Saat für weitere Konflikte und allenfalls den Zweiten Weltkrieg gesät wurde?
Das geht vielleicht etwas zu weit. Geschichte ist niemals eine Einbahnstrasse. Viele Dinge hätten sich auch anders entwickeln können. Aber Tatsache ist, dass der Waffenstillstand vom 11. November und vor allen Dingen natürlich der Versailler-Vertrag eine der Grundlagen waren für die dramatischen Entwicklungen in den 1920er-Jahren, vor allen Dingen natürlich die Störung der Weltwirtschaft durch die ökonomischen Bedingungen des Versailler-Vertrags.
Das wiederum hatte schlimme soziale Folgen, gerade auch in Deutschland. Und das hat dann natürlich den Nazis den Boden bereitet. Insofern gibt es hier eine Verkettung von Entwicklungen, die aber auch hätten anders laufen können.
Es bildeten sich Soldaten-Räte, die die Offiziere zum Teil absetzten und ihnen die Schulterstücke runterrissen.
Wie sah es denn aus zu Hause? Wie war die Situation an diesem Tag?
Bei den Alliierten herrschte natürlich Siegesstimmung. Es gab spontane Siegesfeiern an der Front, die vor allen Dingen erst einmal dem Umstand geschuldet war, dass eben nicht mehr geschossen und nicht mehr gestorben wurde. Und es gab spontane Siegesfeiern in Paris, in London und anderswo. Insofern herrschte bei den Siegermächten natürlich Freude, aber auch Trauer über die Unmengen von Toten und Verwundeten und Krüppeln, die dieser Krieg hervorgerufen hatte.
Und in Deutschland herrschte Revolution. Es gab sehr viel Unruhe, gerade auch innerhalb der Streitkräfte. Es bildeten sich Soldaten-Räte, die die Offiziere zum Teil absetzten und ihnen die Schulterstücke herunterrissen. Es herrschte ziemliches Chaos.
Millionen von Soldaten, die von der Front nach Hause zurückkehrten: Das war wahrscheinlich eine zusätzliche Herkulesaufgabe für diese Staaten?
Es war eine monströse Aufgabe. Man muss sich klarmachen, dass im Laufe des Krieges, im Zuge der Mobilisierung der Kriegswirtschaft ja Millionen von Soldaten an die Front gegangen waren. Und das bedeutete natürlich, Millionen von Arbeitern auch. Um die Produktion aufrechtzuerhalten waren Frauen stark in den wirtschaftlichen Kreislauf eingebunden worden. Sie arbeiteten in den Fabriken und besetzten die Stellen, die früher die Männer besetzt hatten.
Nun kamen die Männer zurück und wollten ihre Jobs wieder. Was dann dazu führte, dass die Frauen häufig von Knall auf Fall entlassen wurden, was aber wieder enorme soziale Probleme mit sich brachte. Weil sie oft die einzigen Menschen in der Familie waren, die in irgendeiner Weise Geld verdienten.
Das Umschalten auf Friedenswirtschaft stellte, angesichts von vier Jahren fast totalem Krieg, ein enormes Problem dar, das eigentlich während der gesamten 1920er-Jahre nicht gelöst werden konnte. Es gab überall Massenarbeitslosigkeit. Das hat natürlich zu sozialen Spannungen geführt. In manchen Ländern, gerade bei den Kriegsverlierern, kam es zu Revolutionen.
Der Erste Weltkrieg hat Europa, die Gesellschaft, die Welt aber auch die Landkarten radikal verändert. War es den Menschen am 11. November 1918 klar, dass die Welt, in der sie leben, ab jetzt eine andere sein wird?
Das war ihnen schon während des Krieges klar – auch wenn die Friedensregelung ja noch gar nicht fest standen. Zum Beispiel Entwicklungen wie der Zerfall Österreich-Ungarns. Es entstanden plötzlich neue Staaten wie die Tschechoslowakei, Ungarn wurde selbstständig, Polen entstand wieder nach 150 Jahren und dann natürlich – das hat die Welt noch massiver erschüttert – die bolschewistische Revolution in der Sowjetunion in Russland.
Das Gespräch führte Kevin Capellini.