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Grossungarische Ambitionen 100 Jahre nach «Trianon»
Aus International vom 23.05.2020. Bild: Inotai/SRF
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100 Jahre Vertrag von Trianon Das ungarische Trauma und Orbans grossungarische Ambitionen

Vor hundert Jahren verlor Ungarn zwei Drittel seines Territoriums. Ein Trauma, das Regierungschef Viktor Orban geschickt nutzt.

«Heute wurden viele Millionen treue und anständige Menschen von unserem Blut heimatlos», schreibt eine Budapester Zeitung am 4. Juni 1920. An diesem Tag unterschreiben ungarische Regierungsvertreter in Versailles den Friedensvertrag von Trianon. Sie gehören zu den Verlierern des Ersten Weltkriegs und müssen einer Verstümmelung ihres Landes zustimmen. Die Sieger – Frankreich, Grossbritannien und Italien – verteilen zwei Drittel des ungarischen Territoriums und die Hälfte der ungarischen Bevölkerung. Sie gehen an die Tschechoslowakei, Jugoslawien, die Ukraine und vor allem an Rumänien.

Chronologie: 100 Jahre seit dem Vertrag von Trianon

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1918: Ungarn verliert zusammen mit Österreich und Deutschland den Ersten Weltkrieg, das österreichisch-ungarische Habsburgerreich zerfällt.

4. Juni 1920: Im Schloss Trianon in Versailles unterzeichnen die ungarischen Entsandten einen Friedensvertrag. Ungarn muss zwei Drittel seines Gebiets und die Hälfte seiner Einwohner an Nachbarländer abgeben. Die Entsandten haben Vorbehalte, d.h. sie fordern schon bei der Unterschrift einen neuen Vertrag.

1921: Die einzige Volksabstimmung im Zusammenhang mit dem Vertrag von Trianon findet statt. Die Stadt Sopron beschliesst, dass sie zu Ungarn gehören will.

1938: Im Bündnis mit Hitler-Deutschland erreicht die ungarische Regierung, dass Teile der Slowakei, Rumäniens und Jugoslawien wieder zu Ungarn gehören.

1947: Erneut ist Ungarn unter den Verlierern eines Weltkriegs. Im neuen Friedensvertrag nach dem Zweiten Weltkrieg wird das Land noch etwas kleiner als 1920: Einige Dörfer rund um Bratislava werden der Slowakei zugeschlagen.

1948-1989: Im kommunistischen Ungarn ist die offizielle Haltung zu Trianon nicht mehr geprägt vom Wunsch nach dem alten Grossungarn, schliesslich sind Ungarns Nachbarn «kommunistische Brudervölker», in der kommunistischen Propaganda gibt es keine Probleme mit Minderheiten.

1993: Jahr des «schwarzen März». In der rumänischen Stadt Târgu Mureș, in der gleich viele Rumänen wie Ungarischsprachige leben, gibt es schlimme Ausschreitungen zwischen den Ethnien. Fünf Menschen sterben, etwa 300 werden verletzt.

Ab 1996: Ungarn bereitet sich auf den Beitritt zur Europäischen Union vor, man arbeitet jetzt mit den Nachbarländern zusammen, beginnt ungarischsprachige Universitäten und kulturelle Einrichtungen zu unterstützen. Ganz verschwinden die Spannungen aber nicht.

Ab 2010: Ungarns Regierungschef Viktor Orban unternimmt inspiriert vom Vertrag von Trianon einiges: Er erklärt den 4. Juni zum «Tag der nationalen Einheit», er bietet den Ungarischsprachigen in den Nachbarländern die ungarische Staatsbürgerschaft und damit das Wahlrecht an, er schickt den ungarischen Minderheiten viel Geld.

Dort leben noch heute 1.2 Millionen Ungarischsprachige. Sie sind die grösste Minderheit im Land. «Die Ungarn in Rumänien haben das Trauma von Trianon nie verwunden», sagt Csaba Asztalos, der Präsident des nationalen Rats gegen Diskriminierung in Bukarest und selbst ungarischsprachig. «Umgekehrt sind die Ungarn in den letzten hundert Jahren in Rumänien immer als Bedrohung dargestellt worden.»

Schlägerei auf dem Friedhof

Meist schwelt der Konflikt zwischen rumänischer Mehrheit und ungarischer Minderheit im Verborgenen. Doch immer mal wieder flammt er auf; letzten Sommer im abgelegenen Uz-Tal in Siebenbürgen, einer Region im Zentrum Rumäniens, wo Ungarischsprachige in einzelnen Kreisen in der Mehrheit sind.

Hunderte rumänische Nationalisten stürmten einen Friedhof, auf dem hauptsächlich ungarische Soldaten begraben sind. Ungarischsprachige bildeten eine Menschenkette, um «ihren» Friedhof zu verteidigen. Es kam zu Pöbeleien und Schlägereien.

«Wir werden jeden Tag unterdrückt»

Auslöser für den Konflikt waren drei Reihen neuer Betonkreuze. Sie sollen an ein paar Dutzend rumänische Soldaten erinnern, die auch auf diesem Friedhof begraben sein sollen. «Die Kreuze sind eine Provokation rumänischer Nationalisten», sagt der ungarischsprachige Politaktivist Attila Toro.

Dass ihn die paar Gräber so stören, hat damit zu tun, dass er sich in Rumänien als Bürger zweiter Klasse fühlt: «Wir erleben die staatliche Unterdrückung täglich. Obwohl sieben von zehn Einwohnern in meiner Gemeinde Ungarn sind, können wir nicht frei über unsere Strassennamen entscheiden, dürfen die ungarische Flagge nicht hissen. Die rumänischen Politiker zeigen uns jeden Tag, dass heute sie die Herren sind in Siebenbürgen.»

Toro wünscht sich mehr Autonomie für jene rumänischen Gebiete, in denen die Ungarn in der Mehrheit sind, und weiss: Das hat keine Chance. Die rumänische Mehrheit würde das nicht akzeptieren.

Ungarn Regierungschef Orban nutzt das Trianon-Trauma geschickt

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Legende: Edit Inotai

Gerade hat Ungarns mächtigster Mann, Regierungschef Viktor Orban, ein Foto von einem alten Globus ins Internet gestellt. Darauf sind die Umrisse Grossungarns zu sehen, des Landes vor 1920, bevor wegen des Vertrags von Trianon viel ungarischer Boden an Nachbarländer ging, an Rumänien zum Beispiel. Orbans Provokation ist eine Antwort auf eine Entgleisung des rumänischen Präsidenten: Der hatte – absichtlich mit affigem ungarischen Akzent – behauptet, die ungarische Minderheit in Rumänien wolle rumänisches Land an Ungarn zurückgeben.

So krud ist Orban normalerweise nicht, wenn es um den Vertrag von Trianon geht. Er nutzt das Trauma von Trianon geschickt, das viele Ungarinnen und Ungaren auch hundert Jahre später noch umtreibt – und er sorgt vor allem dafür, dass dieses Trauma weiterlebt, dass die Wunde nicht verheilt. Einerseits mit Symbolen: Den 4. Juni, den Tag der Unterschrift auf dem Vertrag von Trianon, hat Viktor Orban zum Tag der «nationalen Einheit» erklärt. Er schickt den ungarischen Minderheiten in den Nachbarländern jedes Jahr hunderte Millionen Franken. Und er hat ihnen die ungarische Staatsbürgerschaft angeboten - samt Wahlrecht in Ungarn. Das bringt ihm Stimmen. Im ungarischen Parlament kann Orban durch die neuen Auslandungarn zwar höchstens zwei Sitze gewinnen. Diese beiden Sitze können aber entscheidend sein für die absolute Mehrheit, für Orbans Macht.

Orban redet nie davon, Landesgrenzen zu verschieben, er will nicht zurück ins alte Grossungarn. Mit Symbolen und Geld hat er aber eine Art neues virtuelles Grossungarn erschaffen, einen zusammenhängenden politischen und kulturellen Raum. Und seine Partei Fidesz distanziert sich nicht von jenen wenigen Rechtsextremen, die nach wie vor alte, grossungarische Grenzen fordern. Manchmal tauchen solche Gedanken in Veröffentlichungen – Büchern, Liedern – auf, die die Regierung unterstützt.

Dafür, dass das Trauma von Trianon in Ungarn weiterlebt, soll jetzt auch ein neuer Lehrplan sorgen. Schulkinder sollen mehr lernen über Heimatschutz, Nation und Familie; am Ende der Schulzeit sollen sie stolz sein auf Ungarn. Trianon muss in ungarischen Schulen als «Friedensdiktat» gelehrt werden, nicht einfach als «Friedensvertrag». Damit, sagen Kritiker, liefere der Lehrplan die Bewertung gleich mit. Ungarn: nur Opfer. Die anderen: nur Täter. Schülerinnen und Schüler lernten so nicht selber zu denken, lernten bloss auswendig. Eine weitere Befürchtung: Aus Angst vor Bestrafung könnten Lehrpersonen im Klassenzimmer andere Meinungen, Debatten gar nicht mehr zulassen. Die ungarische Regierung hingegen sagt: Es sei überall so, dass die Werte der Mehrheit bestimmten, was Kinder lernen sollen.

In diesen Tagen wird in der ungarischen Hauptstadt Budapest ein Denkmal fertig gebaut, gleich beim Parlament: eine hundert Meter lange Rampe, die in den Boden hineinführt. Auf den Wänden aus schwarzem Stein sind die Namen all jener Orte eingraviert, die Ungarn vor hundert Jahren wegen des Vertrags von Trianon verloren hat. Es ist ein Denkmal für Viktor Orban; er weiss, dass viele Ungarinnen und Ungarn seinen Umgang mit Trianon schätzen. Es ist kein Zufall, dass seine Partei Slogans wie «nie mehr Trianon, nie mehr fremde Mächte» benutzt, wenn sie über aktuelle Politik – den abweisenden Umgang mit Flüchtlingen, mit der Europäischen Union zum Beispiel – spricht.

Leben in der Parallelwelt

«Der Graben zwischen rumänischer Mehrheit und ungarischer Minderheit ist in den letzten Jahren tiefer geworden», sagt der Anti-Diskriminierungs-Beauftrage Asztalos. Einerseits interessiere sich der rumänische Zentralstaat kaum für seine grösste Minderheit. Andererseits kapselten sich die Ungarischsprachigen immer mehr ab. Viele ethnische Ungarn leben ein Leben als lebten sie in Ungarn und nicht in Rumänien: Sie besuchen ungarischsprachige Kindergärten, lernen in ungarischsprachigen Schulen, beten in ungarischsprachigen Kirchen.

Die Regierung in Budapest investiert viel Geld dafür, dass das möglich ist. Genaue Zahlen gibt es nicht, aber es gilt als sicher, dass Ungarn jedes Jahr über 100 Millionen Franken in Rumänien ausgibt. Die ungarische Regierung finanziert ungarischsprachige Schulen, eine Universität, renoviert Kirchen, schickt in Corona-Zeiten Schutzmaterial. Regierungsnahe Unternehmer investieren in Rumänien in ungarischsprachige Medien.

«Sie besitzen heute ein richtiges Medien-Konglomerat hier in Siebenbürgen», sagt der Soziologe Tamas Kiss. Seine Untersuchungen zeigen, dass sich immer mehr Siebenbürgener Ungarn ausschliesslich in ungarischsprachigen Medien aus dem Umfeld von Orbans Partei informieren.

Das verändere ihr Weltbild, sagt der Soziologe. «Sie sind sehr empfänglich für die Anti-Migrations-Kampagne der ungarischen Regierung. Die Fremdenfeindlichkeit ist bei ihnen grösser als im rumänischen Durchschnitt. Sie ist sogar grösser als in Ungarn selbst.»

«Budapest hat die Seele der Ungarn gewonnen»

Csaba Asztalos sieht das Engagement der Orban-Regierung in Rumänien mit gemischten Gefühlen. Als Siebenbürgener Ungar schätzt er die Chancen, die das Geld aus Budapest der ungarischen Minderheit eröffnet. Als rumänischer Anti-Diskriminierungs-Beauftragter fürchtet er, Orbans Bemühen um die rumänischen Ungarn könnte den Graben zwischen Minderheit und Mehrheit weiter vertiefen. Auf jeden Fall gehe Orbans Strategie auf. Asztalos ist überzeugt: «Budapest hat die Seele der Ungarn in Rumänien gewonnen.»

Ein Fussballclub als Symbol des Ungarntums

Wie ungarisch ihre Seele ist, besingen auch die Fans des FC Dac in der südslowakischen Kleinstadt Dunajská Streda. «Wir sind vom gleichen Blut», heisst es in der Hymne des slowakischen Topclubs – auf Ungarisch. Und als wäre das nicht genug, singen sie vor dem Spiel auch noch die ungarische Nationalhymne.

«Der FC Dac ist das Symbol für alle Ungarn, die seit Trianon ausserhalb von Ungarn leben», sagt der Belgier Jan van Dael. Er ist Sportdirektor des FC Dac und der Schwiergersohn des Klubbesitzers. «Aber», sagt er, «die Klubhymne und die Nationalhymne haben nichts mit Separatismus oder mit Provokation zu tun. Sie sind nur Ausdruck der hiesigen Kultur – und die ist nun mal ungarisch.» Wie in Rumänien sind die Ungarischsprachigen auch in der Slowakei die grösste Minderheit, hier im Südwesten der Landes sind sie sogar in der Mehrheit.

Ungarisches Steuergeld für Spitzenfussball

Vor dem Bürofenster von Sportdirektor van Dael in der klubeigenen Fussballakademie liegen zehn akkurat gemähte Trainingsplätze. 40 Millionen Euro haben Akademie und ein neues Stadion gekostet. Einen Grossteil hat van Daels ungarischsprachiger Schwiegervater bezahlt – ein sowohl in der Slowakei wie in Ungarn bestens vernetzter Geschäftsmann – 10 Millionen Euro hat die ungarische Regierung beigesteuert.

«Ohne die Unterstützung aus Ungarn wäre es kaum gelungen, aus dem Zweitligisten FC Dac innert weniger Jahre einen der Spitzenclubs der Slowakei zu machen», sagt der Sportdirektor. Er findet, die Unterstützung passe gut zum Anliegen der ungarischen Regierung, das Ungarntum auch jenseits der eigenen Grenzen zu fördern.

«Es gibt Wichtigeres als Fussball»

Zsolt Gal sieht das kritischer. Der ungarischsprachige Politologe lebt in einem Dorf gleich nebenan. Er lehrt an der Comenius-Universität in der slowakischen Hauptstadt Bratislava und macht Politik für eine kleine liberale Partei der ungarischen Minderheit. Er sagt: «Natürlich haben wir ungarischsprachigen Slowaken nichts gegen Geld von den ungarischen Steuerzahlern. Aber wie das Geld verteilt wird, ist wenig transparent – und auch wenig sinnvoll.» Der Grossteil gehe nämlich in den Spitzenfussball. Dabei gäbe es in der Region viel dringendere Anliegen.

«Für die ethnischen Ungarn ist – wie für die slowakischsprachige Bevölkerung in der Region – die wirtschaftliche und verkehrstechnische Entwicklung viel wichtiger», sagt Gal. Die Gegend sei nämlich unter den Kommunisten und auch nach der Wende, in den 1990er-Jahren, gezielt vernachlässigt worden, weil man wie in Rumänien die Ungarischsprachigen als Bedrohung für den Nationalstaat sah.

«Roma und Migranten haben uns als Bedrohung abgelöst»

«Das ist hier in der Slowakei Vergangenheit. Migranten und Roma haben uns Ungarn als Bedrohung abgelöst», sagt der Politikwissenschaftler Gal. Die ungarische Minderheit in der Slowakei sei heute – anders als in Rumänien – gut integriert. So gut, dass Parteien der ungarischen Minderheit immer wieder an der slowakischen Regierung beteiligt waren.

Die gute Integration ist sicher ein Grund dafür, dass die Zustimmung zum ungarischen Regierungschef Viktor Orban hier weit weniger schwindelerregend ist als in Rumänien. Sind im rumänischen Siebenbürgen mehr als 90 Prozent der Ungarischsprachigen Orban-Anhänger, dürften es in der Slowakei etwa 50 Prozent sein.

Auch das ist viel Zustimmung – und es zeigt: Orban scheint es zu gelingen, eine grossungarische Nation, einen zusammenhängenden kulturellen und gesellschaftlichen Raum zu schaffen. Eine Nation von Viktor Orbans Gnaden.

Ungarn-Karte
Legende: Schraffiert: Ungarn vor dem 1. Weltkrieg / braun: heutige Länder mit ungarischsprachiger Bevölkerung. SRF

International, 23.5.2020, 09:00

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