Ungarn hat im «Trianon-Vertrag», der nach dem 1. Weltkrieg am 4. Juni 1920 in Versailles unterzeichnet wurde, einen Grossteil seines Territoriums verloren. Im Interview nimmt Maria Schmidt zu den Folgen von Trianon Stellung. Sie gilt als «Haushistorikerin» von Ministerpräsident Viktor Orban und war im ersten Kabinett Orbans zwischen 1998 und 2002 seine Beraterin.
SRF News: Vor hundert Jahren wurde der «Trianon-Vertrag» unterzeichnet. Was bedeutet er für Sie nach so langer Zeit?
Mária Schmidt: Für mich persönlich sind die hundert Jahre seither eine Erfolgsgeschichte. Obwohl die Politiker und die Mächte, die uns diesen Frieden aufoktroyiert haben, wollten, dass Ungarn aufhört zu existieren, haben wir gezeigt, dass wir lebensfähig sind. Wir hatten genügend Lebenskraft und Talent, diese hundert Jahre zu überstehen, und im 21. Jahrhundert als freies und unabhängiges Land in Europa unseren Platz einzunehmen.
Ungarns Regierung spricht oft von Zusammenarbeit mit den Nachbarländern, distanziert sich aber nicht komplett von jenen rechtsgerichteten Gruppen, die den Vertrag noch immer revidieren wollen. Ist das ein politisches Manöver, Wähler von ganz rechts abzuholen?
Die Absicht der Friedensmacher in Versailles war, dass wir uns in Zentraleuropa immer als Feinde betrachten. Aber wir haben in diesem neuen Jahrhundert erreicht, dass wir uns als Interessensgemeinschaft auffassen und zusammenarbeiten können. Was die rechtsradikalen Partien betrifft: Da sollten Sie die linken Parteien fragen, die mit denen in Koalition auftreten.
Die ungarische Regierung distanziert sich Ihrer Ansicht nach genügend von diesen sehr rechten Positionen?
Diese Ultrarechten arbeiten mit den Sozialisten, den Neoliberalen und den Oppositionellen zusammen. Sie treten gemeinsam auf. Warum diese Leute zusammenarbeiten, müssen Sie dort erfragen.
Ungarns Regierung unterstützt die ungarischen Minderheiten in den Nachbarländern mit ziemlich viel Geld. Fehlt denn das Geld nicht in Ungarn selber?
Die Ungarn, die dort leben, haben diese Trennung nicht selber gewählt, sondern wurden von der Geschichte in ein anderes Land gespült. Ich bin der Meinung, wir sollen Solidarität zeigen. Nach Möglichkeit auch gegenüber verfolgten Christen und anderen Personen auf dem Balkan.
Es geht also um Solidarität, nicht einfach um Wählerstimmen?
Diese Frage ist eine rein politische Frage, die Sie Politikern stellen sollten.
Das Friedensdiktat war ungerecht
Einige Historiker kritisieren, in Ungarn werde im Gedenken an Trianon einseitig eine Art Opfermythos gepflegt und die Frage der Mitschuld ausgeklammert.
Ich weiss nicht, welche Stimmen Sie zitieren. Ich bin der Meinung, wir waren der grösste Verlierer des 1. Weltkriegs. Das Friedensdiktat war ungerecht. Ungarn hat beim Ausbruch des 1. Weltkriegs keine bedeutende Rolle gespielt. Der damalige Ministerpräsident hat bis zuletzt gegen den Krieg gestimmt. Diesen grossen Verlust haben wir deshalb gar nicht verdient.
Also ist es kein Mythos, sondern Ungarn ist ein tatsächliches Opfer?
Ja, das ist leider eine Tatsache. Und damit müssen wir uns abfinden.
Das Gespräch führte Sarah Nowotny.