100 Tage ist es her, dass russische Truppen die Ukraine überfallen und unsägliches Leid gebracht haben. 100 Tage Krieg in der Ukraine. Eine neue Zeit ist angebrochen im Land, aber auch in Europa und der Welt. Wladimir Putins Angriffskrieg hat die Ukraine geeint, aber auch Millionen Menschen in die Flucht getrieben.
Die Schäden im Land sind immens. David Nauer, langjähriger Russland-Korrespondent von SRF, befindet sich derzeit in Kiew. In der frühsommerlichen Hauptstadt bricht sich das Leben Bahn – und doch ist der Krieg allgegenwärtig.
David Nauer
Ukraine- und Russland-Korrespondent
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David Nauer
ist Ukraine- und Russland-Korrespondent bei SRF TV. Von 2016 bis 2021 war er als Radio-Korrespondent in Russland tätig. Zuvor war er Russland-Korrespondent des «Tages-Anzeigers». Nauer reist seit Beginn des russischen Angriffskriegs regelmässig in die Ukraine.
SRF News: Was für eine Stadt haben Sie angetroffen?
David Nauer: Es fällt auf, dass Kiew wirklich leer ist. Laut Schätzungen sind nur ein Drittel bis die Hälfte der Einwohnerinnen und Einwohner hier geblieben. Die anderen sind geflohen und noch nicht zurückgekehrt. Auf den Strassen gibt es kaum Staus. Im Stadtviertel, in dem ich wohne, herrscht teilweise gespenstische Stille. Nachts herrscht eine Ausgangssperre – dann ist gar niemand mehr unterwegs. Wenn ich abends aus dem Fenster schaue, sehe ich nur wenige Lichter, die in den benachbarten Häusern brennen.
Es gibt Momente, da könnte man vergessen, dass Krieg herrscht.
Gibt es so etwas wie Normalität im Alltag in Kiew?
Es gibt durchaus Szenen der Normalität, in denen das Leben so richtig aufblüht. Vor allem im Zentrum der Stadt, wo die Restaurants und Läden offen sind. Am Donnerstag war ich zum Beispiel in einem Viertel, in dem es mehrere Restaurants nebeneinander gibt. Alle Tische waren besetzt, es gab eine Geburtstagsfeier. Auch die Oper und die Theater sind offen.
Es gibt also lebendige Szenen in Kiew – die Stadt will leben. Es ist frühsommerlich warm hier und es gibt Momente, da könnte man vergessen, dass Krieg herrscht. Allerdings muss man wegen der Ausgangssperre dann doch wieder um 23 Uhr zu Hause sein.
In Europa und im Westen generell gibt es zunehmend Stimmen, die die Ukraine auffordern, sich mit Russland auf einen Kompromiss zu einigen, um den Krieg zu beenden. Wie kommt das in der Ukraine an?
Sehr schlecht. Ich werde hier in Kiew oft darauf angesprochen. Meine ukrainischen Gesprächspartner fragen mich: Der Westen will, dass wir uns mit Russland einigen – aber worauf sollen wir uns einigen? Aus ukrainischer Perspektive hat Russland ihr Land völlig grundlos und völkerrechtswidrig angegriffen. Es hat Städte zerstört und Zivilisten umgebracht. Die Menschen sagen, dass Russland die Ukraine nicht nur als Staat, sondern auch kulturell auslöschen will, samt seiner Sprache und Geschichte.
Die Ukrainer fragen: Wie sollen wir uns mit einem Feind, der uns auslöschen will, auf irgendetwas einigen?
Diese ukrainischen Sorgen sind allesamt begründet. Das zeigt die Situation in den besetzten ukrainischen Gebieten. Dort gehen die russischen Besatzer gegen jede Form von ukrainischer Kultur vor. Die Ukrainer fragen: Wie sollen wir uns mit einem Feind, der uns auslöschen will, auf irgendetwas einigen? Man fürchtet, dass man am Schluss vom Westen dazu gedrängt wird.
Heisst das auch, dass sich in der Ukraine zurzeit alle hinter die Position der Regierung von Präsident Selenski stellen, oder gibt es so etwas wie eine innerukrainische Debatte über den Kurs von Selenski?
Die Einigkeit in der Ukraine ist gross. Die Menschen wollen in diesem Krieg zusammenstehen und sich hinter der Regierung versammeln. Das ist der allgemeine Tenor hier. Gleichzeitig gibt es in den sozialen Medien teils Kritik an Selenski. Die Ukraine ist ein freies Land. Aber das Hauptproblem im Moment sind nicht die Fehler der eigenen Regierung, sondern der Angriff Russlands.
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