Peter Hughes, der Taxifahrer aus Belfast, bringt die Dinge ohne Umschweife auf den Punkt: «Ja, wir haben Frieden. Aber noch keine Normalität. Dafür braucht es wohl noch weitere 20 Jahre.»
Hughes ist in den katholischen Arbeitervierteln aufgewachsen. Als Junge hat er Steine auf Protestanten geworfen, heute zeigt er Touristen die Überbleibsel des Konflikts. Belfast ist eine junge, prosperierende Stadt, Lonely Planet nennt sie gar eine der Top-Reisedestinationen für 2018.
Ja wir haben Frieden, aber noch keine Normalität. Dafür braucht es wohl noch weitere 20 Jahre.
Doch in den ärmeren Arbeitervierteln ist der alte Konflikt noch spürbar. Nach wir vor stehen da meterhohe Mauern. Sie trennen die katholischen von den protestantischen Vierteln. Hughes erklärt: «Das sieht für den Rest der Welt vielleicht verrückt aus, aber sie dienen immer noch als Schutz vor Steinen und Golfbällen. Niemand will, dass hier etwas rübergeworfen wird und alte Streitereien ausbrechen.»
In den katholischen Vierteln wehen überall demonstrativ irische Fahnen, in den protestantischen die britischen. Hier leben Menschen auch heute nebeneinander her statt miteinander. Und nicht nur hier. In ganz Nordirland gehen über 90 Prozent der Kinder in getrennte Schulen, in katholische oder protestantische. Peter Hughes hat seine Tochter auf eine der gemischt-konfessionelle Schulen geschickt. Sie habe jetzt sogar einen protestantischen Freund, und das sei okay für ihn.
Zerbrechlicher Frieden in Nordirland
Er selber sagt von sich: «Ich bin und bleibe irisch. Die Jungen sagen von sich, sie seien nordirisch. Aber wir alten Dinosaurier sagen: ‹Du bist entweder irisch oder britisch.›» Als Teil des Friedensabkommens war es den Nordiren sogar erlaubt, zwei Pässe zu beantragen: Den britischen und den irischen. Der Taxichauffeur aus Belfast hat nur einen – den irischen. «Für den Friedensprozess ist es gut, wenn wir Dinosaurier irgendwann aussterben», meint Hughes weiter.
Wir alten Dinosaurier sagen: ‹Du bist entweder irisch oder britisch.› Für den Friedensprozess ist es ist es gut wenn wir Dinosaurier irgendwann aussterben.
Doch gerade der Brexit könnte manchem alten Dinosaurier-Gedanken wieder Auftrieb verleihen. Das wird an der Grenze zu Irland am deutlichsten. Beispielsweise in Derry, auch Londonderry genannt, je nach politischer Gesinnung. Hier waren die Ausschreitungen nebst Belfast besonders heftig. Traurige Berühmtheit erlangte der Ort durch den «Bloody Sunday», den blutigen Sonntag 1972, als 13 Zivilisten erschossen wurden.
Hinter Derry ist die Grenze, und dahinter der oberste Zipfel des Nachbarlandes Irland. Die Region ist wirtschaftlich und historisch schon immer stark mit dem irischen Hinterland verbunden. Tom Murry vertritt die Gemeinden entlang der nordirischen-irischen Grenze. Er sagt: «Wir fühlen uns hier nicht wie zwei Gemeinschaften in zwei Ländern. Unzählige Familien haben Angehörige auf beiden Seiten der Grenze.» Während des Konflikts standen Militärpatrouillen an den Grenzübergängen. Für die Dörfer hier waren die offenen Grenzen als Teil des Friedensabkommens elementar. Das war ein Symbol für Einheit, eine Art Einheit mit Irland, auch wenn es weiterhin zwei Länder waren.
Seit Brexit ist die Unsicherheit gross
Die offenen Grenzen liessen die ärmliche Region auch wirtschaftlich aufblühen. Unternehmen konnten expandieren. Don Reddin hat ein Carunternehmen. Mit einem Car hat er angefangen, mittlerweile sind es zehn. Sein Unternehmen liegt in Irland, seine Hauptkundschaft ist in Derry, also in Nordirland.
Reddin weiss: Seit dem Brexit-Referendum ist die Unsicherheit gross. Denn mitten durch sein Grundstück würde eine EU-Aussengrenze entstehen. Eine Grenze könnte bedeuten, es gibt Grenzkontrollen und damit Verzögerungen und Probleme. «Ich bin an der Grenze aufgewachsen, ich habe gesehen, wie damals Geschäfte wegen der Grenzprobleme Konkurs gingen.»
Gavin Killeen ist ebenfalls Unternehmer, er hat eine Druckerei mit über 40 Angestellten, darunter viele junge Mitarbeiter, seit einigen Jahren arbeiten hier Protestanten und Katholiken Seite an Seite. Er erklärt wie der wirtschaftliche Erfolg der Region und der Frieden direkt zusammenhängen: «Wenn die Menschen keinen Job haben, kein Ziel haben, dann können Unruhen entstehen. So haben die Unruhen damals auch angefangen. Darum könnte alles, was heute wirtschaftliches Wachstum gefährdet, auch den Friedensprozess gefährden.»
Am Kern des Abkommens gekratzt
Grenzkontrollen als Folge des Brexits wären ein wirtschaftliches Hindernis und es wäre auch eine Provokation für jene, die sich eher irisch als britisch fühlen. Es würde damit am Kern des Friedensabkommens kratzen.
Jonathan Powell, der unter Tony Blair am Abkommen mitgearbeitet hat, erklärte SRF News vor ein paar Monaten: «Beim Friedensabkommen ging es im Kern um Identität: Es erlaubt den einen, sich irisch zu fühlen und den anderen, sich britisch zu fühlen. Das klappt dank einer unsichtbaren Grenze. Wenn man wieder eine harte Grenze hat, dann hat es auch Grenzgebäude oder Grenzpersonal und diese werden dann zur Zielscheibe für die Gegner».
Das Karfreitagsabkommen erlaubt den einen, sich irisch zu fühlen und den anderen, sich britisch zu fühlen. Das klappt dank einer unsichtbaren Grenze. Wenn man wieder eine harte Grenze hat, dann wird diese wieder zur Zielscheibe für die Gegner.
In London und Brüssel knobeln unzählige Unterhändler an der Problemlösung, wie Grossbritannien aus der EU austreten kann ohne, dass zwischen Nordirland und Irland eine EU-Aussengrenze entsteht. Mit Ausschreitungen wie damals rechnet zwar niemand, aber bereits kleinere Unruhen wären ein Rückschritt im Friedensprozess.