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Ost und West in Europa – die Beziehung bleibt schwierig
Aus International vom 18.05.2024. Bild: Reuters
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20 Jahre Osteuropa in der EU Wie glücklich ist die Langzeitbeziehung?

Vor 20 Jahren wurden aus 15 EU-Ländern 25. Die meisten Neulinge kamen aus dem Osten. Die neue Bewegungsfreiheit in der EU führte dazu, dass viele Menschen aus dem Osten ihr Glück im Westen probierten. Inzwischen sind etliche aber wieder nach Osteuropa zurückgekehrt. Sie kennen «den Osten», den «Westen» und deren komplizierte Beziehung.

Hier kommen vier Porträts von ganz unterschiedlichen Rückkehrerinnen und Rückkehrern.

Turbo-Europäerin Monika Pajerova, zurück in Tschechien

Monika Pajerova
Legende: Monika Pajerova findet, die östlichen Mitglieder sollten sich in der EU mehr engagieren. SRF

Monika Pajerova bezeichnet sich selbst als Turbo-Europäerin. Die Tschechin organisierte 1989 in Prag die Studentendemos, die das Ende der kommunistischen Herrschaft einläuteten. «Zurück nach Europa» war schon damals ein wichtiger Slogan.

Mehr als eine Dekade später, im Hinblick auf das Referendum über den EU-Beitritt, kehrt Pajerova nach Jahren als Diplomatin in Frankreich zurück nach Tschechien. Sie wird Präsidentin der Bewegung «Ja für Europa» und tourt mit Vaclav Havel, dem Regimekritiker und ersten Präsidenten, durch die tschechische Republik.

EU-Osterweiterung im Jahre 2004
Legende: SRF

Abneigung auf dem Land

Der Empfang vor allem auf dem Land ist alles andere als herzlich: «An einigen Orten waren die Leute richtig gemein zu uns. 15 Jahre lang hatten wir den Eindruck, alle seien froh um die Demokratie. Und nun waren wir konfrontiert mit Leuten, die sich abgehängt fühlten. Und nein: Die waren nicht zufrieden.»

Am Ende können Pajerova, Havel und ihr Mitstreiterinnen feiern: 77 Prozent stimmen im Juni 2003 für den tschechischen EU-Beitritt. Allerdings geht nur gut die Hälfte der tschechischen Stimmberechtigten an die Urne.

Im Rückblick wirkt das wie ein Omen für die heutige Einstellung der Tschechinnen und Tschechen zur EU. In keinem anderen EU-Land sind die Menschen so skeptisch gegenüber der Union.

EU als Schutzschild

Monika Pajerova ist heute Dozentin für Politikwissenschaften an der American University in Prag. Sie sagt: «Die Tschechen nehmen alles mit Humor. Das hilft in Zeiten der Unterdrückung. Aber die Schattenseite ist, dass sie Mühe haben, sich mit irgendetwas zu identifizieren, bei dem du dich engagieren musst.»

Für Pajerova ist die EU-Mitgliedschaft das, was Tschechien und die anderen zentraleuropäischen EU-Länder vor einem Schicksal bewahrt, wie es die Ukraine oder Belarus erleben. Dementsprechend froh ist sie, dass nur eine Minderheit der Tschechen tatsächlich aus der Union austreten will.

Sie findet, die östlichen Mitglieder sollten sich im Gegenteil mehr engagieren in der EU. «Wir sind derzeit so etwas wie Schwarzfahrer. Wir fahren gerne mit im europäischen Zug. Aber wir sträuben uns, auch die Fahrkarte zu bezahlen.»

Orban-Sympathisantin Erzsebet Antal, zurück in Ungarn

Erzsebet Antal im Wald
Legende: Für Erzsebet Antal ist Viktor Orban «ein echter Kämpfer». ZvG

Erzsebet Antal flucht über den «Idioten» im Auto vor uns. Der hat die Spur gewechselt, ohne zu blinken. Die 71-jährige Ungarin im roten Faserpelz findet, man müsse sich an Regeln halten. Die Europäische Union aber tue das nicht, sie mische sich zu stark in ungarische Angelegenheiten ein. Und dagegen sei Ungarns Regierungschef Viktor Orban der perfekte Mann. «Doktor, nein, Herr Viktor Orban ist ein echter Kämpfer, unsere Regierung arbeitet wirklich gut.» Erzsebet Antall ist in Orbans Partei.

Im Keller versteckt vor russischen Panzern

Zu Hause serviert sie zum Tee Selbstgebackenes. Die ungarische Regierung gebe allen viel, sagt sie. Sie bekommt heute eine 13. Rente. Ihre jüngere Tochter bezahlt keine Einkommenssteuer, weil sie vier Kinder hat.

Erzsebet hat aber auch Zeiten gekannt, in denen es wenig gab, vor allem keine Freiheit. «Als ich drei Jahre alt war, versteckten wir uns im Keller vor den russischen Panzern.» 1956 war das, die Sowjets ertränkten ungarische Freiheitswünsche in Blut. Später studierte Erzsebet Antal, wurde Sportlehrerin und Fitnesstrainerin. Sie heiratete, bekam zwei Töchter.

Den Kommunismus, die Fremdherrschaft hat sie immer gehasst. Aber der Übergang zur Demokratie war auch entbehrungsreich für Ungarn – und ganz besonders für Erzsebet persönlich. Ihr Mann verliess sie. Immer wieder musste Erzsebet einen neuen Job suchen, immer wieder eine neue Wohnung. Sie glaubte, ihr und dem Land werde es besser gehen in der EU. «Mir hat die Idee gefallen, mit den anderen Ländern zusammenzuarbeiten, sich wirtschaftlich und politisch zu helfen.»

Früher spielte die Musik im Westen, doch das ändert sich

Box aufklappen Box zuklappen

Vor genau 20 Jahren bekam die Europäische Union zehn neue Mitglieder. Die meisten davon waren früher kommunistische Länder gewesen: Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, die Slowakei, Slowenien und Ungarn. Für viele Menschen in Ost- und Westeuropa war der Beitritt zur EU eigentlich eine Wiedervereinigung, waren die Hälften des Kontinents doch jahrzehntelang erzwungenermassen getrennt durch den Eisernen Vorhang.

Bei aller Freude damals im Frühling 2004: Die Beziehung zwischen Ost und West ist bis heute auch schwierig. Polinnen, Tschechen und Ungarinnen fühlen sich immer wieder als EU-Mitglieder zweiter Klasse: wenn ihre Firmen im Westen nicht dieselben Chancen haben wie umgekehrt. Wenn Fischstäbchen grosser Marken im Osten weniger Fisch enthalten, in der Schokolade weniger Kakao ist als im Westen. Kurz: Wenn Lebensmittel im Osten schlechter sind als im Westen. In Polen sind viele überrumpelt, wenn die EU von ihnen gesellschaftliche Offenheit erwartet. Als im Westen die ersten homosexuellen Paare heirateten, schüttelte Polen gerade mithilfe der katholischen Kirche seine Diktatur ab. In Ungarn sehen die Menschen ihre Nation seit jeher durch Fremdbestimmung und Zugewanderte in Gefahr. Und in Tschechien sind sie grundsätzlich skeptisch – gegenüber der EU mehr als alle anderen in der Union.

Einen «Ostblock» gibt es nicht. Gemeinsamkeiten aber gibt es schon: Die meisten in Osteuropa wollen damals wie heute Teil der EU sein. Der Osten ist zwar nach wie vor deutlich ärmer als der Westen der EU. Aber die osteuropäischen Länder holen auf. Und einige sind gerade dabei, ihre Rolle als Werkbank des Westens abzustreifen. In manchen Bereichen hat der Osten den Westen sogar überholt. Bei der Digitalisierung – auch bei staatlichen Dienstleistungen – sind die Länder im Osten der EU weiter. Bei der Aufrüstung der Armeen – seit der russischen Invasion in der Ukraine europäischer Konsens – ist es ebenfalls der Osten, der vorangeht.

Neun Jahre in Grossbritannien

Sobald Ungarn in der EU war, ging Erzsebets ältere Tochter nach Grossbritannien, damals noch Mitglied. Erzsebet folgte der Tochter 2006 und arbeitete dort neun Jahre lang als Nanny – bis das Heimweh zu stark wurde und sie nach Ungarn zurückging. «Ich mag meine Nation, möchte für sie kämpfen.» Dank dem Lohn aus dem Westen konnte sie sich ein Auto kaufen, der jüngeren Tochter ein Haus.

Aber inzwischen sei die EU entartet, findet Erzsebet. Geflüchtete kämen in Scharen, das Geschlecht sei frei wählbar; Brüssel ein Klub von Dieben ohne Moral. Ein Klub, der den Krieg verlängere, indem er der Ukraine Waffen schickt. Gegen all das kämpfe Ungarns Regierungschef Viktor Orban. Sollte er sich durchsetzen, wäre das nicht nur für Ungarn ein Segen, sondern für ganz Europa.

Schuld sind Krieg und Pandemie

In der EU hingegen glauben viele, Viktor Orban sei nur an Bereicherung und Macht interessiert. Tatsächlich kontrolliert Ungarns Regierung einen Teil der Gerichte, die staatlichen und viele private Medien, die Wirtschaft. Sie macht fleissig Geschäfte mit Russland und China. Sie gibt das viele EU-Geld im Land fragwürdig aus: Die Anti-Betrugs-Behörde der EU führt mit Abstand am meisten Verfahren gegen Ungarn.

Gleichzeitig hält Ungarn wirtschaftlich nicht mehr mit den meisten anderen EU-Ländern in Osteuropa mit. Für Erzsebet Antal sind ausschliesslich der Krieg und die Folgen der Pandemie schuld an den Problemen. Sie sagt sogar: Sollte Orban die EU nicht umformen können, müsse Ungarn austreten.

EU-Kritiker Konrad Grabowski, zurück in Polen

Konrad Grabowski mit Arbeitshelm
Legende: Mit 20 verliess Konrad Grabowski Polen, arbeitete zwölf Jahre lang auf Baustellen in Grossbritannien, Schweden und den Niederlanden. SRF

Konrad Grabowski hat den Überblick. Aus der Kabine seines Krans wirkt die Baustelle wie ein grosser Sandkasten. Blickt er zurück auf 20 Jahre polnische EU-Mitgliedschaft, sieht er ein trauriges Bild: «Auf der Oberfläche sieht es gut aus. Aber drunter liegt vieles in Scherben.»

Damit er erklären kann, was er meint, treffen wir uns nach Feierabend dort, wo der Kranführer zu einem grossen Teil seine Kindheit verbracht hat: in der ehemaligen Autowerkstatt des Vaters. Grabowski will sie zu einem Zuhause für seine fünfköpfige Familie umbauen: «Hier will ich leben.»

Zuerst unbedingt weg, dann zurück

Das war auch schon anders. Mit 20 verlässt er Polen, arbeitet zwölf Jahre lang auf Baustellen in Grossbritannien, Schweden und den Niederlanden. Er ist froh um die Personenfreizügigkeit in der EU. Beim Referendum über den EU-Beitritt hatte er «Ja» gestimmt.

Vor neun Jahren hatte Grabowski genug vom Fremdsein und kam zurück, obwohl er unglücklich war mit dem Zustand Polens. «Die EU mit ihren vielen Regeln hat die Wirtschaft ausgebremst.» Er ist überzeugt, ohne EU wäre das Land weiterhin so rasch gewachsen wie vor dem EU-Beitritt.

Nur die Deutschen profitieren

«Die Europäische Union hat uns gezwungen, Werften und Kohleminen zu schliessen. Das war falsch.» Dass viele der Betriebe nicht mehr rentabel waren, lässt Grabowski nicht gelten. Auch dass Polen dank der Milliarden aus der EU heute fast sieben Mal so viele Schnellstrassen hat wie vor dem Beitritt, kann ihn nicht beeindrucken

«Die Milliarden fliessen ja sowieso nur, weil deutsche Unternehmen so stark von den günstigen Arbeitskräften in Polen profitieren», sagt der 42-Jährige.

Klimawandel ist Hirngespinst

Am meisten aber ärgern den Kranführer die europäischen Umweltvorschriften. Den Klimawandel hält Grabwoski für ein Hirngespinst. Die strengeren Umweltauflagen dagegen betreffen ihn ganz direkt. Vor ein paar Jahren hat er hier in der Garage eine neue Kohleheizung installiert. Die wird bald nicht mehr erlaubt sein. «Ich will aber nicht in eine neue Gasheizung investieren», sagt der Kranführer.

Austreten aus der EU will er dennoch nicht: «Das wäre wohl gar riskant für die polnische Wirtschaft.» Aber wenn er zurückgehen könnte, er würde gegen einen EU-Beitritt Polens stimmen.

Stolze Aussenseiterin Karolina Kochmann, zurück in Polen

Karolina Kochmann lehnt über ein Mäuerchen
Legende: Mit dem ländlichen Polen, wo Kirche und Nation zählen, kann Karolina Kochmann wenig anfangen. Kuba Smarczewski

Karolina Kochmann steht im Sommer 2023 auf einem der Lovemobiles an Berlins jährlicher Techno-Parade, auf einem der Gefährte, auf denen die DJs ihre Musik mixen. Die Haare der Djane schimmern blau, ihr BH ist knallig gelb, ihr ebenmässiges Gesicht konzentriert.

Berlin ist für Karolina Kochmann auch ein Abstecher in die Vergangenheit: 21 Jahre lang lebte sie in Deutschland. Heute ist sie in Warschau zu Hause. «In Warschau fühle ich mich als Frau sehr sicher. Ich wurde noch nie blöd angemacht.» In Deutschland hingegen hätten junge Männer aus anderen Kulturen sie ständig angepöbelt: «Ehrlich gesagt glaube ich, dass einige Kulturen nicht miteinander vereinbar sind.»  

Karolina fügt sofort hinzu, dass es ihr gefalle, dass auch in Warschau inzwischen deutlich mehr Menschen aus anderen Kulturen leben als früher. Der Unterschied zwischen Polen und Deutschland sei, dass Polen stärker darauf achte, wen man ins Land lasse.

Jedes Jahr sieben Prozent mehr Lohn

Ausländerinnen und Ausländer kommen nach Polen, weil die schnell wachsende Wirtschaft sie braucht. Weil die schnell steigenden Löhne, sieben Prozent pro Jahr, sie anziehen. Als Polen 2004 der EU beitrat, war Warschaus Pro-Kopf-Einkommen etwa gleich hoch wie in den ärmsten Regionen Spaniens. Heute ist es vergleichbar mit den reichsten Gegenden Deutschlands.

Im Land ihrer Kindheit hat Karolina heute zu niemandem mehr Kontakt. «Ich habe das Gefühl, mein Leben habe in Warschau angefangen.»

Ihr Leben hat tatsächlich in Polen angefangen: Hier kam sie 1989 zur Welt. Als sie drei Jahre alt war, zogen sie und ihre Mutter nach Wiesbaden. Ihr Vater, ein Ingenieur, hatte dort eine Firma für Isolationsarbeiten aufgebaut.

Die Klassenbeste

Karolina lernte sofort Deutsch – und blieb trotzdem immer ein bisschen Aussenseiterin. Oder fühlte sich zumindest so. Sie sagt, ihr Vater habe einen leichten Minderwertigkeitskomplex gehabt, weil er aus einem Land kam, das als zweitklassig und arm wahrgenommen wurde. Es war die Zeit der Witze über klauende Polen: dein Auto, heute gestohlen, morgen schon in Polen...

Karolina Kochmanns Vater wollte, dass seine Tochter Klassenbeste war. Also wurde sie es. «Ich habe mich aber immer ein bisschen geschämt, Polin zu sein.» Immerhin: Als Polen 2004 EU-Mitglied wurde, habe sich ihr polnischer Pass wertvoller angefühlt.

Später studierte Karolina Wirtschaft. Weil sie gehört hatte, dass man in diesem Fach in Warschau leicht gute Noten bekomme, fuhr sie für ein Semester hin. «Und dann habe ich mich in Warschau verliebt.»

Zuerst in die Stadt, später in einen Mann. Seit Polen in der EU sei, sagt sie, habe sich die Stadt unglaublich entwickelt: so viel spannende Kultur, so viel neue Architektur. Menschen auf der Strasse, die genauso gut durch Berlin spazieren könnten. «Das Geld aus der EU wurde sehr gut eingesetzt», sagt sie.

Stolz, Polin zu sein

Natürlich würde Karolina in Deutschland als Musikerin und Konzertorganisatorin mehr verdienen. Aber wichtiger als Geld sei, dass sie heute stolz darauf sei, aus Polen zu kommen.

Mit dem ländlichen Polen, wo Kirche und Nation zählen, kann sie allerdings wenig anfangen. Mit Polens konservativer Regierung, die bis letztes Jahr im Amt war, gar nichts.

Karolina weiss, dass es dauern wird, bis Staat und Kirche wirklich getrennt sind, bis Frauen problemlos abtreiben dürfen. Sie findet, die EU müsse mit Polen Geduld haben. Immerhin, die neue links-liberale Regierung sei ein Fortschritt.

International, 18.5.24; 09:08 Uhr;kobt

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