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25 Jahre Abzug der Truppen Die Ossis und die Russen

Am Sonntag wählen Brandenburg und Sachsen. Die CDU kämpft um jeden AfD-Wähler, den sie zurückgewinnen kann. Und dabei spielt auch das spezielle Verhältnis zu Russland eine wichtige Rolle. Vor einem Vierteljahrhundert verliess der letzte russische Soldat das Land.

Alle ostdeutschen Ministerpräsidenten fordern unisono ein Ende der EU-Wirtschaftssanktionen gegen Russland nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014. Und dabei geht es nicht nur um Verluste für die ostdeutsche Exportwirtschaft. Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) sprach in diesem Sommer anlässlich des internationalen Wirtschaftsforums in St. Petersburg auch «von einer grossen positiven Zugewandtheit zu Russland.»

Er störte sich auch nicht daran, dass in St. Petersburg der «Präsident» der sogenannten Volksrepublik Donezk präsent war. Kretschmer liess sich sogar demonstrativ mit dem russischen Präsidenten ablichten und lud ihn nach Dresden ein, wo Putin in den 1980er Jahren als KGB-Offizier tätig gewesen war.

Zwei Männer sitzen sich gegenüber. Dahinter eine Schrift: St. Petersburg International Economic Forum.
Legende: Auch wenn die Bundesregierung eine andere Politik verfolgt: Michael Kretschmer, Ministerpräsident von Sachsen, trifft sich mit Russlands Präsident Wladimir Putin. Reuters

Der sächsische CDU-Ministerpräsident stellte sich damit diametral gegen die Haltung der Bundesregierung in Berlin, die ja für die deutsche Aussenpolitik zuständig ist; und er erntete vor allem aus dem Westen Deutschlands massive Kritik. Namentlich vom Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger.

Das nahm Kretschmer in Kauf im Kampf um jede Stimme, um jeden Wähler, jede Wählerin, die er der AfD wieder abspenstig machen kann. Denn bei der Landtagswahl in Sachsen geht es für Kretschmer und die sächsische CDU um Alles. Und ein positives Gefühl zu Russland ist weit verbreitet und wird vor allem von der AfD bedient.

Stockholm-Syndrom?

Ist es Liebe? Die russischen Soldaten waren doch Besatzer? Und wie es der Zufall will: Genau heute vor 25 Jahren, am 31. August 1994 hatte der letzte russische Soldat deutschen Boden verlassen. Und schon damals hatte mancher Ostdeutscher vor laufender Kamera eine Träne verdrückt.

Fast ein halbes Jahrhundert waren die sowjetischen, beziehungsweise russischen Soldaten als Besatzer in Ostdeutschland präsent gewesen.

Ich kann die Ostdeutschen nur schwer verstehen, was ihre Russland-Liebe betrifft.
Autor: David Nauer SRF-Korrespondent in Moskau

Ich frage David Nauer, unseren SRF-Mann in Moskau, der früher in Berlin als Deutschlandkorrespondent in Berlin gearbeitet hat. Die ungeschminkte Antwort per Mail lässt nicht lange auf sich warten. «Ehrlich gesagt: ich kann die Ostdeutschen nur schwer verstehen, was ihre Russland-Liebe betrifft. Sie haben es über 40 Jahre mit den Russen probiert… und was kam raus? Russgeschwärzte Innenstädte, eine Mauer quer durch Berlin und Läden ohne Bananen. Jetzt, plötzlich, ist «der Russe» wieder hoch im Kurs. Was ist denn hier los? Flammt da ein altes Stockholmsyndrom auf? Kollektive Erinnerungslücke? Oder ist es einfach zu anstrengend in einer Demokratie zu leben? Wie gesagt: ich kann es nicht verstehen.»

Roter Stern über Finsterwalde

Der Kies knirscht unter meinen Schuhen. Finsterwalde ist eine kleine Stadt, 100 Kilometer südlich von Berlin. Ich bin im Osten, das sieht man sofort am kleinen russischen Friedhof mit den grossen roten Sternen mitten im Zentrum neben dem alten Wasserturm. Eine Frau giesst die grünen Beeten vor den Grabsteinen; seit dem Abzug der russischen Streitkräfte hat sich Deutschland verpflichtet, deren Denkmäler und Anlagen zu pflegen. Versuchen wir dieses Russland-Syndrom der Ostdeutschen zu verstehen.

Gräber mit rotem Stern. Davor ein roter Stern mit Hammer und Sichel als Zeichen der Sowjetunion.
Legende: Hier ruhen die Soldaten: Russischer Militärfriedhof in Finsterwalde. SRF/Peter Voegeli

Johannes Wohmann, 75, war von 1990-2010 FDP-Bürgermeister in Finsterwalde. In der kleinen Stadt war eine grosse Garnison mit Militärflughafen angesiedelt. Im Herbst 1989 ging Wohmann wie viele mit dem «Neuen Forum» auf die Strassen Finsterwaldes, stets mit der bangen Frage, ob die Rote Armee militärisch intervenieren werde. Schliesslich waren 340'000 sowjetische Elitesoldaten in der DDR stationiert, und schliesslich hatte Moskau 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei interveniert, also eigentlich immer, wenn die Macht des roten Sterns bedroht war.

1989 geschah nichts. Das war der Beginn einer emotionalen Freundschaft. Als Bürgermeister war Wohmann ab 1990 in engem Kontakt mit dem Kommandanten, und so lernte er die Russen überhaupt erst kennen. Wohmann staunt noch heute: «Der hat mich gefragt, was wir zu tun gedenken. Man konnte sich auf ihn vollständig verlassen». Man konnte sich sogar noch dann auf ihn verlassen, als sich die Rote Armee in Finsterwalde allmählich selbst auflöste.

Ukrainische Fahnen

«Plötzlich tauchten im Stadtbild Militärfahrzeuge auf, nicht mehr mit dem roten Stern dran, sondern mit bunten Trikoloren, zum Beispiel den ukrainischen Farben», erinnert sich Wohmann. Der Lack blätterte buchstäblich bei der Roten Armee ab.

Wir setzten uns mit einigen Dolmetschern und Offizieren auf dem Fussboden, assen etwas und sprachen bis zwei Uhr morgens. Das war der Abschied.
Autor: Johannes Wohmann Ehemaliger Bürgermeister von Finsterwalde

Am Anfang war es also Dankbarkeit gewesen, die das Gefühl der Ostdeutschen prägte. Dass Moskau nicht intervenierte, hatten sich vor allem die Älteren nie vorstellen können. Dann lernten sich Ostdeutsche und Russen überhaupt erst persönlich kennen. Vor 1989 waren die Soldaten der Roten Armee abgeschirmt von der Bevölkerung in den Kasernen stationiert gewesen. Mit dem bevorstehenden Abzug der russischen Truppen kamen sich beide Seiten näher. Es kam die Empathie.

Aufbruch im Dunkeln

Was ein kompletter Umbruch bedeutet, konnten die Ossis mitfühlen. Wohmann ist noch heute zu Tränen gerührt, wenn er vom Abzug der russischen Truppen erzählt.

Karte von Deutschland. Berlin und Finsterwalde sind eingezeichnet.
Legende: Die Stadt Finsterwalde liegt im südlichen Brandenburg und hat knapp 17'000 Einwohner. SRF

Zum Beispiel von einem jungen Dolmetscher, der plötzlich in einem Anflug von Verzweiflung erklärte: «Wir gehen hier nicht weg. Wir sind 12'000 Mann in der Garnison in Wünsdorf, wir haben alles, wir backen Brot…». Als ob eine autonome 12'000 Mann Kommune entstehen sollte. Wohmann war fassungslos: «Wo sind denn Eure Felder?» Der frühere Bürgermeister erinnert sich an die Ehefrau des russischen Kommandanten, die nach verzweifelter Suche nach einem neuen Zuhause in Russland schliesslich mit ihren zwei Kindern – im selben Alter wie Wohmann Söhne – in einem Zimmer bei Verwandten im fernen Odessa Unterschlupf fand, während ihr Mann noch in Finsterwalde war.

Und Wohmann erinnert sich an die kleine Abschiedsparade, die er 1993 für die russische Garnison organisierte. Allen voran marschierte ein kleiner Junge in Offiziersuniform und Wohmann bemerkte, wie dem Kommandanten neben ihm eine Träne unter der Pilotenbrille hervorlief.

Die eindrücklichste Geschichte ist allerdings die letzte: An einem Abend im Jahr 1993 kam die Meldung, dass die Garnison am nächsten Tag komplett und endgültig geräumt werde. Wohmann fuhr zum Militärflughafen, wo sich alles in Auflösung befand und gleichzeitig komplette Dunkelheit herrschte, denn alle Glühbirnen waren bereits herausgeschraubt und verpackt für den Transport nach Hause.

Nach langem Suchen fand er den Kommandanten in einer kahlen, dunklen Wohnung in einem Plattenbau. «Wir setzten uns mit einigen Dolmetschern und Offizieren auf dem Fussboden, assen etwas und sprachen bis zwei Uhr morgens. Das war der Abschied.»

Das Ende war also der Beginn einer wunderbaren Freundschaft gewesen. Kennengelernt haben sich Ossis und Russen erst nach 1989.

«Das ist das Erste Deutsche Fernsehen…»

Schauen Sie den Bericht der ARD-Tagesschau vom 31.8. 1994 an. Man fühlt sich in einer anderen Welt. Die russischen Soldaten singen auf Deutsch, «Deutschland wir reichen Euch die Hand», ein gerührter Bundeskanzler Kohl spricht von Zusammenarbeit und gleichzeitig beschleicht einem ein Gefühl, als ob ein Gastgeber einen einst wichtigen, aber heute etwas peinlichen Gast in einem abgetragenen Anzug halbwegs höflich aus dem Haus komplimentiert.

20 Milliarden Mark zahlte Deutschland für den Abzug der russischen Truppen, Peanuts, wenn man bedenkt, dass 1989 340'000 Elitesoldaten und 200'000 zivile Angehörige in Ostdeutschland stationiert waren. Von Dankbarkeit und Zusammenarbeit ist heute zwischen Russland und der EU nichts mehr zu hören. Die Gründe dafür stehen auf einem anderen Blatt.

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