Die 18-jährige Tschechoslowakin Irena Brežná war gerade im Ferienlager in Frankreich, als in ihrer Heimat die russischen Panzer auffuhren. Sie erfuhr davon aus dem Radio. Den «Prager Frühling» hat sie als junge Frau hautnah miterlebt. Sie spürte, wie sich das Land öffnete. Den Einmarsch der Russen habe aber niemand geahnt, erzählt sie im Interview.
SRF News: Wie haben Sie die Zeit der Öffnung in der Tschechoslowakei vor dem Einmarsch der russischen Soldaten erlebt?
Irena Brežná: Damals konnte ich endlich Zeitungen lesen, was eine spannende Lektüre war. Auf einmal entlarvte man kommunistische Verbrechen und Missgriffe der Planwirtschaft. Bei dieser Lektüre habe ich mir gedacht, dass ich einmal Journalistin werden könnte – früher konnte ich mir das nicht vorstellen.
Waren in ihrem Freundeskreis alle für diese geplanten Reformen?
Ich glaube, es waren alle für diese Reformen. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, dass jemand gesagt hätte, dass diese Reformen ins Verderben führen würden. Es gab allerdings auch Stimmen, die keinen Kapitalismus wollten. Das Wort war immer noch so belastet: Da stellte man sich so Kapitalisten mit Zigarren vor, die ausgemergelte Arbeiter im Westen ausbeuten.
Sie haben von den Ereignissen in der Tschechoslowakei im Ferienlager in Frankreich erfahren. Wie war das für Sie?
Am 21. August sind wir im Ferienlager aufgestanden und der Lagerleiter stellte wortlos ein Radio auf. Und wenn ich mich daran zurückerinnere, könnte ich weinen, denn wir hörten nur von der Besetzung der Tschechoslowakei. Das hörten wir die folgenden Tage ununterbrochen. Ich habe nur geweint und meine Mutter sagte mir damals, dass wir emigrieren würden.
Es war ein Schock für mich, dass man uns einfach so verraten hat.
Was hat der Einmarsch der russischen Truppen bei Ihnen ausgelöst?
Es war ein Schock für mich, dass man uns einfach so verraten hat. Der Prager Frühling, der ja nicht nur in unserem Land stattfand, wurde einfach zunichte gemacht. Sofort war klar, dass es wieder ein Leben in Lüge geben wird und die ganze Freiheit einfach weg sein wird. Mir wurde sofort klar: Ich komme nie wieder nach Hause.
Wie kamen Sie mit Ihrer Familie in die Schweiz?
Ursprünglich war die Emigration nach Kanada geplant, doch als wir in Wien ankamen, war die kanadische Botschaft voll mit wartenden Landsleuten. Jemand hat dann gesagt, die Schweiz nehme Flüchtlinge ohne Visum auf. Wir fuhren sofort los und kamen in Buchs (SG) an.
Wie war die Ankunft in der Schweiz?
Das Auffanglager war sehr deprimierend, eine Turnhalle mit vielen Feldbetten. Anschliessend wurden wir registriert und bekamen Benzingeld. Meine Mutter wollte unbedingt in eine grössere Stadt und so kamen wir in Basel an und meine Mutter sagte, sie gehe keinen Meter weiter.
Wie waren die Bedingungen?
Nachdem die Arbeitsbedingungen gelockert wurden, fanden meine Eltern sofort eine angemessene Stelle in der Pharmaindustrie. Damals war es sehr aussergewöhnlich, dass Frauen solche Stellen erhielten, denn die Situation der Frau zu dieser Zeit in der Schweiz war sehr niederschmetternd.
Hat der Prager Frühling ihr Leben nachhaltig verändert?
Die Ankunft in der Schweiz war nicht nur eine Ankunft in einem anderen Land. Hier hat sich auch ein Fenster in eine andere Welt und in eine neue Denkweise aufgetan. Ich habe hier gelernt, analytisch zu denken, kritisch zu denken und Dinge zu hinterfragen. Die neue Selbständigkeit hat mir sozusagen mein Leben gerettet.
Das Gespräch führte Matthias von Wartburg.