SRF News: Welche Ansprüche hatten die Gründer des Nachrichtenmagazins «Der Spiegel» 1947?
Hans-Ulrich Wagner: «Der Spiegel» wollte zunächst einmal etwas ganz Neues sein. Er sollte ein Magazin sein nach dem Vorbild des amerikanischen «Time-Magazine» oder der «News-Review». Zwar gab es auch schon in den 1920er- und 1930er-Jahren Magazine in Deutschland als Format. Doch ein Magazin nach anglo-amerikanischem Vorbild in Deutschland zu machen, in der Medienlandschaft von Hannover und es dann in Hamburg herauszugeben – das war in der britischen Zone in Norddeutschland 1947 das Tolle.
Die ‹Spiegel›-Journalisten nervten die Politik. Das ist das Beste, was der Presse passieren kann.
Erster Chefredaktor war Rudolf Augstein, er war bei der Gründung des «Spiegels» erst 23 Jahre alt. Er blieb sein Leben lang beim «Spiegel» und ist auch heute noch als Herausgeber posthum aufgeführt. Wer war Augstein 1947?
Augstein ist ein typisches Beispiel eines dieser damals jungen Männer, die aus dem Krieg kommen. Er war Funker im Krieg und musste «normal» am Kriegsgeschehen teilnehmen, wie damals alle jungen Deutschen. Viele dieser Männer kamen mit einem riesigen Elan aus dem Krieg zurück. Die junge Generation hatte den starken Willen des Wiederaufbaus und des Schaffens. Augstein ist dabei nur einer von sehr Vielen. Auch die Briten setzten auf diese zwar unerfahrenen, aber jungen Männer voller Gestaltungsdrang.
«Der Spiegel» konnte schnell an Auflage zulegen. Was war sein Erfolgsgeheimnis?
Zunächst war er ein interessantes Magazin mit sehr unterschiedlichen Beiträgen – erst später wurde er quasi zur Speerspitze der Demokratie in Deutschland. In der Anfangszeit stillte «Der Spiegel» mit seinen vielfältigen und bebilderten Artikeln aus Deutschland und aller Welt vor allem den Hunger nach Information im Land. Speziell war seine Stellung als Wochenmagazin – im Gegensatz zur Tagespresse.
Die ‹Spiegel-Affäre› 1962 war eine Bewährungsprobe für die westdeutsche Demokratie – diese hat sie bestanden.
1962 schrieb «Der Spiegel» sehr kritisch über die Bundeswehr und die Nato: Er warf ihnen vor, einem sowjetischen Angriff nicht standhalten zu können. Als Folge wurden mehrere Redaktoren des Magazins verhaftet, unter ihnen auch Chefredaktor Augstein. Was machte die «Spiegel-Affäre» mit dem Magazin?
Die «Spiegel-Affäre» 1962 war der Höhepunkt dessen, was sich bereits vorher abgezeichnet hatte: «Der Spiegel» hatte als Magazin, das genau recherchiert, investigativ tätig ist, aufdeckt und nachfragt schon vorher Skandale und Affären ans Licht gebracht. Die «Spiegel-Affäre» war schliesslich bloss der Kulminationspunkt, indem sich die Presse derart mit der Staatsmacht anlegte, dass diese versuchte, zurückzuschlagen. Doch die Festsetzung Augsteins und der Versuch der Behörden, die Presse zu beschneiden, misslang sowohl auf der juristischen Ebene wie auch in der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Die Journalisten des «Spiegels» erfuhren Solidarität von anderen Journalisten, etwa jenen der Sendung «Panorama» des deutschen Rundfunks. Kritisch denkende Journalisten und normale Bürger solidarisierten sich mit der Pressefreiheit, die durch den «Spiegel» verkörpert wurde. Es war eine Art Bewährungsprobe für die westdeutsche Demokratie, die Pressefreiheit und die Rolle der Presse in der Nachkriegsgesellschaft. Und die Gesellschaft hat sie bestanden.
«Der Spiegel» hat sich den kritischen Journalismus damals auf seine Fahne geschrieben – kann er diesen Anspruch bis heute erfüllen?
Er hat ihn tatsächlich über viele Jahrzehnte aufrechterhalten. Es gab sowohl vor wie auch nach der «Spiegel-Affäre» Meilensteine in der Geschichte des Magazins. Man denke etwa an die «Flick-Affäre» oder die «Neue-Heimat-Affäre» . Immer wieder schaffte es «Der Spiegel» also, Affären – Missstände in der Gesellschaft – aufzudecken. Dabei galten stets die «Spiegel»-eigenen Grundsätze der wasserdichten Recherche, der Kontrolle und des Faktenchecks mittels des «Spiegel»-Archivs. Dieses Vorgehen führt zu den auf dem neusten «Spiegel»-Cover aufgeführten Zitaten von deutschen Politikern, die das Magazin auch mal ein «Scheissblatt» genannt haben. Das betrifft sowohl CDU- als auch SPD-Politiker. Vereinfacht gesagt, nervten die «Spiegel»-Journalisten die Politik. Das ist das Beste, was der Presse mit journalistischem Anspruch passieren kann: Sie wird zum Korrektiv der Politik und zu einer Art Kontrollinstanz der Machthabenden. Deshalb hat es der «Spiegel» durchaus verdient, sich diese Zitate nun anzuheften. Es sind dies Schmuckstücke, die er sich durch seine Geschichte verdient hat.
Das Gespräch führte Monika Glauser.