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90 Gesetze gegen Terrorismus Wenn der Komiker zum Kriminellen wird

In Australien nutze die Politik Anti-Terror-Gesetze zur Unterdrückung unliebsamer Stimmen, sagen Zivilrechtler.

Erst kam der alte Familienhund dran, dann fiel die gehbehinderte Mutter zu Boden. Die Beamten einer Anti-Terror-Sondereinheit der Polizei fackelten nicht lange, als sie im Juni Kristo Langker verhafteten. Handyaufnahmen zeugen von einem mehr als forschen Vorgehen der Polizisten, als sie den 20-jährigen Mann im Haus seiner Eltern in Handschellen legen.

Langker, Produzent für den bekannten australischen Youtube-Komiker Jordan Shanks, hatte davor in Sydney auf der Strasse den Vizepremierminister des Bundesstaates angesprochen, John Barilaro. Der Politiker war in den letzten Monaten wegen Misswirtschaftsvorwürfen öfters Ziel des Spotts von Jordan Shanks gewesen.

Mann hält Dokument hoch
Legende: Eine Klage des Vizepremierministers des Bundesstaats New South Wales am Hals: der Youtube-Komiker Jordan Shanks. Screenshot Youtube

Er wolle von ihm wissen, sagte Langker, weshalb er seinen Chef wegen Beleidigung verklagt habe. Barilaro stieg schweigend in seine Limousine. Danach soll der Politiker die Polizei alarmiert haben, glauben Langkers Anwälte. Inzwischen auf Kaution frei, droht dem jungen Produzenten eine Freiheitsstrafe wegen Stalkings. Shanks, ein Komiker mit über einer halben Million Youtube-Fans, steht vor dem finanziellen Ruin, sollte Barilaro vor Gericht gewinnen.

Die Polizei macht die Schmutzarbeit für die Politik.
Autor: Stephen Blanks Anwalt, Konzil für Bürgerrechte Sydney

Bereits verloren habe die Polizei, analysiert Stephen Blanks vom Konzil für Bürgerrechte in Sydney im Gespräch mit SRF, denn sie mache «die Schmutzarbeit für die Politik», so der Anwalt. Das werde «sich vor dem Richter nicht gut machen». Für Blanks und andere Rechtsexperten ist der Fall Langker ein weiteres Beispiel dafür, wie in Australien zunehmend direkt oder indirekt Gesetze gegen kritische Stimmen eingesetzt werden, die eigentlich zur Vermeidung und Verfolgung schwerster Straftaten vorgesehen wären.

«Rund 90 Anti-Terrorgesetze hat Australien seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in New York eingeführt», sagt Blanks, «mehr als jedes andere Land auf der Welt». Die Sondereinheit, die Langker verhaftet hatte, war als Reaktion auf den Überfall auf das Lindt-Café im Herzen von Sydney im Jahr 2014 geschaffen worden. Damals kamen bei der Geiselnahme durch den vermeintlich islamistisch motivierten Haron Monis drei Menschen ums Leben, inklusive der Attentäter.

Die Aufgabe der speziell ausgebildeten Beamten wäre es, potenzielle gewaltbereite Einzeltäter – sogenannte einsame Wölfe – mit politischem Hintergrund rechtzeitig aus dem Verkehr zu ziehen, nicht Komiker mit einem frechen Maul zum Schweigen zu bringen. «Solche Operationen werden immer mehr auf Leute ausgeweitet, die keine ernsthafte Gefahr für die Gemeinschaft sind», sagt Blanks.

Das Schweigen der Opposition

Bürgerrechtler warnen seit Jahren, die Flut von Anti-Terror-Gesetzen könne auch gegen ganz gewöhnliche Australierinnen und Australier eingesetzt werden. Derartige Befürchtungen werden von Politikern meist als übertrieben oder gar als «paranoid» abgewiesen. Denn in einem sind sich die beiden grossen Parteien einig: Im Kampf gegen Terrorismus als «schwach» dargestellt zu werden, ist politisch fatal. So wurden praktisch alle entsprechenden Gesetzesvorschläge der konservativen Regierung von der sozialdemokratischen Opposition still akzeptiert.

Für Kritiker stehen einige dieser Gesetze im Widerspruch zu den Prinzipien einer offenen Gesellschaft und lebhaften Demokratie. So gilt seit einigen Jahren, dass Gerichtsprozesse hinter geschlossener Türe stattfinden können, falls der Staat eine «Gefahr für die Sicherheit der Nation» befürchtet.  Dies im Widerspruch zu einem offenen Justizsystem, das auch in Australien eine lange Tradition hat. Dieses Gesetz wird gegenwärtig im Fall eines Whistleblowers angewendet, der aufgedeckt hatte, dass australische Spione den Kabinettsraum der Regierung von Osttimor mit Abhöreinrichtungen verwanzt hatten (siehe Kasten unten). Die australische Regierung verschaffte sich damit einen Informationsvorsprung in ihren Verhandlungen mit der Regierung des bitterarmen Nachbarstaates um die Nutzung von Ölvorkommen im Grenzgebiet.

Der geheimnisvolle «Witness K»

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Es war im Jahr 2004, als Mitarbeiter eines Hilfswerks in Dili, der Hauptstadt von Osttimor, in Regierungsgebäuden Renovationen ausführten. Doch bei den vermeintlichen netten Handwerkern handelte es sich um Agenten des australischen Auslandsgeheimdienstes ASIS. Diese versteckten Abhörgeräte in einem Raum neben dem Büro des Premierministers. Das Ziel war, Informationen zu erhalten, die Australien die Oberhand bei den Verhandlungen mit Osttimor über die reichen Öl- und Gasfelder im Timor Gap sichern sollten, dem Meeresgebiet zwischen Australien und seinem nördlichen Nachbarn, dem ärmsten Staat Südostasiens.


Die Geheimaktion blieb nicht für immer geheim. «Witness K» (Zeuge K), ein ehemaliger hochrangiger ASIS-Geheimdienstagent, der die Verwanzung der Büros geleitet haben soll, legte 2012 in einem vertraulichen Papier offen, dass die australische Regierung Zugang zu streng geheimen, hochrangigen Gesprächen in Dili hatte und dies während der Verhandlungen über den «Timorsee-Vertrag» ausgenutzt habe. Der Vertrag wurde später durch ein anderes Abkommen ersetzt, das weitere Seeansprüche Osttimors bis 2057 einschränkte. Als der Präsident von Timor Leste, Xanana Gusmao, von der Abhöraktion erfuhr, wies er den Vertrag zurück und rief den Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag an.


Die Anwälte Osttimors, unter ihnen der Australier Bernard Collaery, wollten «Witness K» im März 2014 in einer Anhörung als vertraulichen Zeugen unter Ausschluss der Öffentlichkeit vorladen. Ihm droht wegen Verletzung staatlicher Geheimissen eine lebenslange Haftstrafe. Doch bereits im Dezember 2013 waren die Wohnungen und das Büro des Zeugen und seines Anwalts Collaery vom australischen Inland-Geheimdienst ASIO und der Bundespolizei durchsucht worden. Die Agenten beschlagnahmten zahlreiche Dokumente und andere Beweise, die für eine Verteidigung von entscheidender Bedeutung wären.


Der Ständige Schiedsgerichtshof in Den Haag befasste sich bis Anfang 2017 mit den Ansprüchen Dilis auf das Gebiet, bis Osttimor schliesslich das Verfahren vor dem IGH gegen Australien einstellte. Dies, nachdem sich die australische Regierung zu Neuverhandlungen bereit erklärt hatte: 2018 unterzeichneten die Parteien ein neues Abkommen, das Osttimor 80 Prozent der Gewinne aus der Rohstoffausbeutung zusprach, und Australien 20 Prozent.
Im Juni 2018 erhob der australische Generalstaatsanwalt offiziell Strafanzeige gegen «Witness K» und seinen Anwalt Bernard Collaery. Ein Datum für die Verhandlung steht noch aus. Die Identität des geheimnisvollen Zeugen ist bis heute nicht bekannt. Wer sie offenlegt, dem droht Gefängnis. Deshalb und zum Schutz staatlicher Geheimnisse müsse die Verhandlung hinter verschlossenen Türen stattfinden, so die Regierung. Collaery und seine Anhänger wehren sich gegen den Ausschluss der Öffentlichkeit vom Verfahren. Sie behaupten, das Vorgehen Canberras sei nichts anderes als eine Jagd auf Whistleblower; die Regierung verstosse damit gegen die Prinzipien einer offenen, fairen Demokratie. Sie fordern den Rückzug aller Anklagepunkte sowohl gegen Collaery als auch gegen den geheimnisvollen «Witness K».

Häufig im Fokus der Terrorbekämpfung stehen Journalisten. Mitte 2019 geriet Australien weltweit in die Schlagzeilen, als die Polizei die Büros des Fernsehsenders ABC in Sydney stürmte und Recherchematerial zu einem Bericht zum Verhalten australische Soldaten in Afghanistan beschlagnahmte. Der damalige Chefredaktor von ABC News, John Lyons, zeigte sich überrascht, welche weitreichende Rechte die Polizisten bei der Durchsuchung der Büros hatten.

Die Beamten seien laut Untersuchungsbefehl befugt gewesen, Daten auf den Computern der Journalisten zu «ergänzen, kopieren, löschen oder ändern». Auch die Wohnung einer Journalistin des Verlages News Corp wurde von Agenten auf den Kopf gestellt (Zitat der irritierten Reporterin: «Sie durchwühlten sogar die Schublade mit meinen Unterhosen»), nachdem sie einen Artikel veröffentlicht hatte, deren Quelle offensichtlich ein Whistleblower in der Verwaltung war. Beide Razzien wurden später vor Gericht für illegal befunden.

Gebäude mit Firmenlogo
Legende: 2019 im Visier der Polizei: der Fernsehsender ABC in Sydney. Keystone

Den vielleicht tiefsten Eingriff in die Privatsphäre jedes einzelnen Bürgers Australiens erlaubt ein Paket von Gesetzen, die im Jahr 2015 verabschiedet worden waren – zu einer Zeit, in der die Terrororganisation Islamistischer Staat (IS) in verschiedenen Ländern den Höhepunkt ihrer Macht feierte. Seither müssen Anbieter von Kommunikations-Leistungen – also etwa Internetfirmen und Telefongesellschaften – die sogenannten Metadaten aller Anrufe, Internet-Sitzungen, E-Mails und Textnachrichten jedes einzelnen Nutzers zwei Jahre lang aufbewahren. Das Material kann von 22 verschiedenen Polizei- und Geheimdiensten eingesehen werden – ohne richterliche Verfügung.

Innenministerium: «Öffentlichkeit vor Gewalttätern und Terroristen schützen»

In einer Stellungnahme gegenüber SRF verteidigt das australische Innenministerium die Gesetze. «Die nationalen Sicherheitsgesetze müssen mit dem komplexen operativen Umfeld Schritt halten können», so ein Sprecher. Gerade Daten aus dem Telekommunikationsverkehr spielten eine wichtige Rolle, um «die Öffentlichkeit vor Gewalttätern und Terroristen zu schützen». Die Sammlung von Metadaten sei ein «wichtiges Werkzeug im Kampf gegen schwere Verbrechen wie Mord, sexuelle Gewalt, Drogenhandel und Entführungen». Schliesslich unterläge die Anwendung aller Gesetze der Aufsicht durch unabhängige Instanzen.

Porträbild von Stephen Blanks
Legende: «Rezept für den Missbrauch»: Anwalt Stephen Blanks kritisiert die umfangreichen Vollmachten, über die die australische Polizei verfügt. ZVG / Nicole Sultana

Es mag auf den ersten Blick erstaunen, dass derart weitreichende Massnahmen von der Bevölkerung in der Regel toleriert, ja sogar als notwendig bezeichnet werden. Laut Stephen Blanks habe das mit der Natur vieler Australierinnen und Australier zu tun: «Wir sind generell politisch apathisch». Solange ein Gesetz einen selbst nicht betreffe, kümmere man sich nicht darum. Zudem stelle die Politik seit Jahren gewisse Gruppen der Bevölkerung – etwa Geflohene und Muslime – als Bedrohung dar. Eine Bedrohung, die nur durch eine Verstärkung der Sicherheitsgesetze in Schach gehalten werden könne.

Eine Palette von Gesetzen

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Australien hat seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA rund 90 Anti-Terror-Gesetze verabschiedet.

Die Liste des australischen Internetmagazins The Conversation aus dem Jahr 2019 zeigt die bis zu diesem Zeitpunkt erlassenen Gesetze aus verschiedensten Bereichen der australischen Justiz – von Kriminalrecht bis zu Zensur und Überwachung.

Für Stephen Blanks sind Vollmachten, wie sie in vielen der Gesetze verankert sind, ein «Rezept für den Missbrauch» durch die Behörden. Von der Gefahr eines Polizeistaates reden will der Anwalt trotzdem nicht – «das würde mich in ernsthafte Schwierigkeiten bringen», meint er. Australien sei ein «wunderschönes Land, in dem die meisten Menschen frei sind», so der Jurist. Aber das Land habe auch eine «dunkle Seite», die nicht immer leicht zu sehen sei. Stephen Blanks: «Sie ist aber sehr, sehr hässlich.»

Rendez-vous, 2.8.2021, 12:30 Uhr

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