Bart Pigram starrt auf den Boden. Nur zwei kleine Punkte im grauen Schlamm deuten darauf hin, dass sich hier eine Krabbe versteckt. Mit einem langen Metallhaken zieht er das Tier aus seinem Versteck. Die Krabbe greift wild um sich mit ihren wuchtigen Scheren, die so stark sind, dass sie einem den Finger abknipsen könnten. «Mittagessen», freut sich Pigram.
Der junge Aboriginal-Mann ist nicht allein. Eine Gruppe von Touristinnen und Touristen folgt ihm durch die Mangrovensümpfe vor der nordwestaustralischen Kleinstadt Broome.
Die Besucher sind nicht ohne eine gewisse Nervosität. Denn im Dickicht der Mangroven leben auch giftige Schlangen und Krokodile. Der Gründer und Besitzer von « Narlijia Tours » erklärt den Europäerinnen und Europäern, wie sie sich verhalten müssen – bald fühlen sie sich sicher.
Pigram weiss, was er tut. Seit er denken könne, jage er hier, erzählt er, und vor ihm Generationen seiner Ahnen. Nur werde er heute von Besuchern dafür bezahlt. «Ich kann hierherkommen, in den traditionellen Lebensraum meiner Vorväter, zum Jagen, Fischen und Sammeln», sagt Pigram, «genauso, wie ich es schon seit der Kindheit getan habe». Im Gegensatz zu früher könne er sich mit der Pflege dieser Traditionen ein modernes Leben finanzieren.
Später wird Pigram in seinen Wagen steigen und nach Hause fahren, so wie das Millionen von Australierinnen und Australier jeden Tag auch tun, wenn die Arbeit zu Ende ist.
Bart Pigram ist Teil einer Wachstumsindustrie: Aboriginal-Tourismus. Eine Studie definiert diese Form des Fremdenverkehrs als «die Teilnahme an einer Tour, einem Erlebnis oder einer Aktivität, die eine Interaktion mit Aborigines und Torres-Strait-Insulanern, einer Gemeinschaft, einer Stätte oder einem Kunstgegenstand beinhaltet, und zwar in einer Art und Weise, die angemessen und respektvoll ist und der Kultur, dem Erbe und den Traditionen der Aborigines entspricht».
Aboriginal-Tourismus wächst
Der Wunsch, das indigene Australien besser kennenzulernen, werde unter den Besuchenden grösser, bestätigt Christoph Bärlocher von Knecht-Reisen, einem führenden Schweizer Reiseveranstalter. «Meiner Ansicht nach gehört so eine Erfahrung zu jeder Australienreise», meint er, denn Gäste sollten auch den indigenen Teil der australischen Geschichte kennenlernen.
Vor der Covid-Pandemie hatten 820'000 von insgesamt 910'000 internationalen Besuchenden einen Austausch mit den ersten Kulturen des fünften Kontinents gesucht. Das rechnet sich: Aboriginal-Tourismus und der Handel mit indigenen Produkten – allem voran Kunstgegenständen – tragen mit jährlich rund vier Milliarden Franken zur australischen Wirtschaft bei.
Meiner Ansicht nach gehört so eine Erfahrung zu jeder Australienreise.
Obwohl es auch in den Städten entsprechende Touren gibt, zeigen vor allem in ländlichen Gebieten indigene Australierinnen und Australier Reisenden aus aller Welt, wie sie traditionell leben. Dabei geben sie auch Einblicke in ihre Spiritualität und über Jahrtausende mündlich überlieferte Mythologien.
In den meisten Fällen sind die entsprechenden Tour-Unternehmen in der Hand von Ureinwohnerinnen und Ureinwohnern selbst. Auf diese Weise können nicht nur für sich selbst ein Einkommen schaffen, sondern auch für andere Mitglieder ihrer Gemeinde.
Überleben im kargen Outback
So auch in Zentralaustralien, wo « Karrke Aboriginal Tours » im Schatten des imposanten Gebirges «Kings Canyon» Besuchern zeigt, wie Menschen in solch isolierten Wüstengebieten Zehntausende von Jahren überleben konnten.
Gespannt lauschen Touristinnen und Touristen den Klängen zweier gegeneinander geschlagener Bumerange, während ein Mann in der lokalen Luritja-Sprache singt. Auch in der Wüste dreht sich der Alltag traditionell um das Jagen und Sammeln von «Bushfood» – natürlich vorkommender Nahrung.
Die Aboriginal-Frau Natasha erklärt die Bedeutung einzelner Pflanzen und Tiere, die in dieser kargen Landschaft gefunden werden können. Ganz zuoberst auf der Wunschliste: sogenannte «Witchetty Grubs». Frauen graben tief in den Boden, um diese daumendicken Maden aus den Wurzeln bestimmter Bäume zu schälen.
Sie seien nicht nur eine Delikatesse, sondern eine bedeutende Quelle von Eiweiss. «Man kann sie entweder auf dem Feuer rösten oder sie roh essen», erklärt Natasha den staunenden Touristen. Man müsse ihnen einfach erst den Kopf abbeissen, bevor man sie schluckt. «Sonst beissen sie einen in die Speiseröhre.»
Wirtschaftliche Unabhängigkeit zu finden, Arbeitsplätze zu schaffen, zu überleben – das ist für indigene Australierinnen und Australier seit der Invasion des Kontinents durch britische Sträflinge und Siedler 1788 eine Herausforderung.
Die Arbeitslosenrate unter Aborigines ist überdurchschnittlich hoch. Der Grund ist vor allem in ländlichen Gebieten nicht nur ein genereller Mangel an Beschäftigungsmöglichkeiten. Vielerorts leiden Aborigines bis heute unter verstecktem oder offenem Rassismus. Denn selbst wenn sie arbeiten wollen, finden sie keinen Job.
So nehmen Aborigines ihr wirtschaftliches Schicksal immer häufiger selbst in die Hand. Wie in Südaustralien, wo der ehemalige Rugby-Profi Daniel Motlop im Zentralmarkt der Stadt Adelaide Esswaren und Getränke verkauft, die von Aborigines gesammelt oder hergestellt werden.
Ob Kängurufleisch, Gewürzmischungen aus Pflanzen, die von Frauen im Northern Territory gesammelt werden: «Ich versuche, traditionelle Zutaten zu kommerzialisieren, um ihre nachhaltige Nutzung zu sichern und Arbeitsplätze in abgelegenen Aboriginal-Gemeinden zu sichern.»
Inzwischen liefert er seine Produkte an einige der bekanntesten Feinschmeckerrestaurants Australiens. Sein Kassenschlager ist ein Gin, in dem grüne Baumameisen schwimmen – tot natürlich. «Sie sind traditionell eine Quelle von Vitamin C für Ureinwohner in den Tropen», erklärt der Geschäftsmann. Der Spirituose aber gäben sie «einen leichten Zitronengeschmack».