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Abstimmung über Unabhängigkeit Schicksalsentscheid im Paradies

Am Sonntag stimmt die Inselgruppe Neukaledonien über eine Trennung von Paris ab. Das Land ist gespalten.

Sonne, Sandstrände, kristallklares Wasser – und «La Marseillaise». Aus einem kleinen Lautsprecher dröhnt klirrend die französische Nationalhymne. Demonstration in der neukaledonischen Hauptstadt Nouméa: mehrheitlich weisse Neukaledonier schwenken stolz die französische Flagge. Einige Demonstranten haben sich das Gesicht mit den Farben Blau, Weiss und Rot bemalt. «Vive la France!», rufen sie, es lebe Frankreich.

Am 4. November können die Neukaledonier abstimmen, ob sie sich von Paris trennen wollen. Für die Protestierenden ist der Fall klar: Nein! Dann versucht plötzlich ein Mitglied der indigenen Kanaken den Aufmarsch zu stören. Bewaffnete Polizisten halten ihn zurück.

Abhängig wie ein Baby von der Mutterbrust

«Es ist kompliziert», fasst die australische Pazifikexpertin Denise Fisher die politische Lage im Nachbarland zusammen. Die ehemalige Botschafterin in Nouméa lehrt an der australischen Nationaluniversität ANU. «Kompliziert wegen der verschiedenen Wellen von Einwanderern, die im Verlauf der Jahrhunderte nach Neukaledonien kamen und unterschiedliche Interessen haben. Kompliziert aber auch wegen der spezifischen Rechte, die kein anderes französisches Territorium hat. So kann es etwa seine eigenen Gesetze erlassen», meint Fisher.

Seit tausenden von Jahren hatten die Kanaken Inseln im Südwestpazifik besiedelt. 1853 begann die Kolonialisierung, auf Anweisung von Napoleon III. Später machte Paris aus Neukaledonien eine Sträflingskolonie. Seither sind die Neukaledonier abhängig von Frankreich wie ein Baby von der Mutterbrust: Teile der Wirtschaft sowie die öffentliche Verwaltung leben bis heute von Subventionen aus Paris.

Luftaufnahme von einer Insel und Korallenriff
Legende: In den Gewässern um Neukaledonien liegen einige der am besten erhaltenen Korallenriffe der Welt. Imago

Allerdings tragen Tourismus und Bergbau verstärkt zum Einkommen bei. So liegen in den Gewässern von Neukaledonien einige der am besten erhaltenen Korallenriffe der Welt. Im Boden lagern zwischen 10 und 25 Prozent der globalen Nickelvorkommen. Auch der Abbau dieses Rohstoffs ist mehrheitlich in französischer Hand. Die Pariser Firma Eramet hält einen Anteil von 60 Prozent an der lokalen Société Le Nickel (SLN).

Die Förderung des Metalls und die Folgen für die Umwelt sorgen regelmässig für Proteste. Erst im Oktober wurde eine Anlage durch Demonstranten stillgelegt. Nickelminen sind auch ein beliebtes Ziel von Unabhängigkeits-Aktivisten. Anfang Oktober hatte eine Gruppe vorwiegend indigener Protestierender zwei Wochen lang die Produktion einer SLN-Mine aufgehalten.

zwei Kinder mit einer Flagge Neukaledoniens
Legende: Die Unabhängigkeitsbestrebungen der von Frankreich kolonisierten Inselgruppe sind nicht neu. Reuters

Neu ist der Ruf der Kanaken nach Unabhängigkeit nicht, er ist heute nur weniger blutig als früher. Zwischen 1878 und 1917 wurden hunderte von Indigenen in Aufständen getötet. «Oft war der Auslöser, dass Paris über Jahre erkämpfte Rechte für die Kanaken plötzlich wieder zurückgezogen hatte», analysiert Denise Fisher.

Die ethnischen Spannungen endeten 1988 zum letzten Mal in einem Blutbad. Bei einer Geiselnahme kamen 19 Indigene und sechs französische Sicherheitskräfte ums Leben. Frankreich habe über Jahrzehnte «bewusst versucht, die indigene Bevölkerung zu verdrängen, zu marginalisieren», analysiert Fisher: «Verschiedene Wellen von Immigranten aus anderen Teilen Frankreichs wurden gezielt eingesetzt, um die Separatisten an Zahl zu übertreffen.»

Vermummter Mann
Legende: Die Aufstände sind nicht mehr so blutig, die Separatisten nicht mehr so extrem wie früher. Reuters

Das Ergebnis dieser Politik ist ein buntes Gemisch von Einheimischen und Zugewanderten: die von Paris gesandten Administratoren, dann die europäischen Siedler, die seit Jahrzehnten in Neukaledonien leben. Dazu kommen Menschen aus anderen französischen Territorien und aus dem Rest des Pazifiks, sowie Vietnamesen, Chinesen und andere Asiaten.

Die Rechnung Frankreichs ging trotzdem nicht auf. Die Kanaken stellen heute noch gut 40 Prozent der rund 270'000 Menschen zählenden Bevölkerung. Und sie bleiben eine potente Kraft. «Kanaken sind in allen Bereichen der Wirtschaft und Politik vertreten», sagt Fisher. «Nicht zuletzt, weil sich Frankreich in den letzten Jahrzehnten ihnen gegenüber deutlich offener gezeigt hatte und sie nicht mehr einfach als Kolonialisierte behandelte.»

Macron mit Einheimischen
Legende: Macrons Besuch im Mai trug zur Charmeoffensive bei. Keystone

Ein Besuch des französischen Präsidenten Emmanuel Macron im Mai trug zur Charmeoffensive bei. Er schlug die Schaffung einer Achse der Verteidigung zwischen Frankreich, Indien und Australien vor. In diesem neuen System im indopazifischen Raum solle Neukaledonien eine wichtige Rolle spielen.

Es könne niemand sagen, wie die Befragung am 4. November ausgehen werde, meint Fisher. Zu gross sei das Spektrum von Parteien. Ganz links steht die kompromisslos auf Unabhängigkeit pochende Labourpartei. Ganz rechts stehen die strikt gegen die Unabhängigkeit von Frankreich politisierenden Konservativen.

Dazwischen gibt es eine ganze Palette von kleineren Gruppierungen. Viele dieser Separatistenparteien seien heute dank dem Entgegenkommen Frankreichs nicht mehr so extrem wie früher, sagt Fisher. «Ihre Führer sprechen heute sogar davon, die Macht künftig mit Frankreich zu teilen.»

Bei einem Nein folgen weitere Abstimmungen

Für Charles Wea, Sprecher der Kanak and Socialist Liberation Front (FLNKS), ist klar, dass nur eine Loslösung von Paris in Frage kommt. Befürchtungen, ein solcher Schritt könnte in einem wirtschaftlichen Desaster oder sogar in Gewalt enden, schlägt er ab. «Wir hatten fast dreissig Jahre Zeit, uns darauf vorzubereiten. Wir Kanaken sind in wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht bereit.»

Wir können den französischen Kolonialismus nicht mehr akzeptieren.
Autor: Charles Wea Kanak and Socialist Liberation Front

Sollten die Neukaledonier am Sonntag Nein zur Unabhängigkeit sagen, werden sie im Jahr 2020 nochmal abstimmen können, und 2022 noch einmal. So sieht es der vor dreissig Jahren mit Paris unterzeichnete Nouméa-Vertrag vor. Stimmen sie zu, beginnt eine Phase der Transformation von Macht, der schrittweisen Loslösung von Frankreich.

Wie weit die Trennung schliesslich gehen soll, muss erst noch verhandelt werden. Für Charles Wea ist aber klar: «Wir wollen eine neue Gesellschaft aufbauen, ein neues Land und damit eine neue Beziehung zu Frankreich. Denn wir können den französischen Kolonialismus nicht mehr akzeptieren.»

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