Die Familie Tinh wohnt am Stadtrand von Da Nang in einem Raum nicht grösser als eine Garage. Ein Bett gibt es nicht, dafür einen Fernseher. Und auf den starren alle: die Mutter, der Vater, die 25-jährige Tochter und ihr 22-jähriger Bruder. Die Augen der Kinder sind ins Leere gerichtet. Ihre dünnen Körper liegen am Boden.
Hätte sie gewusst, dass sie solche Kinder gebären würde, dann hätte sie wohl nie geheiratet, sagt Le Thi Rhung müde: «Als meine Tochter mit all diesen Problemen zur Welt kam, wollte ich eigentlich kein Kind mehr. Aber mein Mann drängte mich, und so gingen wir das Risiko ein.» Seither mache sie nichts anderes mehr als waschen, kochen und sich um die behinderten Kinder kümmern. «Man kann sie nie allein lassen.»
Ich bin so wütend auf die Amerikaner und auch auf meine eigene Regierung.
Vater Mai Tinh macht das chemische Entlaubungsmittel Agent Orange für die Verkrüppelung seiner Kinder verantwortlich. Er ist zwar zu jung, um im Vietnamkrieg gekämpft zu haben. Doch danach säuberte er drei Jahre lang ohne Schutzkleidung Fässer und Böden, die mit Agent Orange verseucht waren. Seither leidet er an einer Hautkrankheit und an Schwäche.
«Ich bin so wütend auf die Amerikaner und auch auf meine eigene Regierung», sagt er. Obwohl er kaum arbeiten kann, seine Frau die Kinder betreuen muss und deshalb auch nicht arbeitet, erhält die Familie keine Hilfe von der Regierung. Nur jene, die im Krieg gekämpft haben, erhalten eine Rente.
Die Familie lebt von umgerechnet rund 50 Franken, die sie jeden Monat von der Da Nang Vereinigung der Opfer von Agent Orange (Dava) erhält. Die Nichtregierungsorganisation setzt sich für Opfer des Entlaubungsmittels ein.
3'000'000 leiden bis heute wegen Agent Orange
In einem Zentrum von Dava nähen 50 Kinder und Jugendliche Hosen. Sie arbeiten langsam. Alle sind sie behindert. Laut Nguyen Thi Hien, der Präsidentin von Dava, leiden bis heute drei Millionen Vietnamesinnen und Vietnamesen an den Spätfolgen des Herbizids. 5000 von ihnen leben in Da Nang. Auf dem hiesigen Militärflughafen wurde ein Grossteil des Gifts auf die Flugzeuge verladen und dann versprayt.
Die USA sind nicht verpflichtet, irgendwas zu tun. Wir tun es aus freien Stücken, um das Erbe des Vietnamkriegs hinter uns zu lassen.
Die meisten Kinder, die an den Spätfolgen von Agent Orange leiden, sind geistig oder körperlich behindert. Nach dem Krieg wurden die Auswirkungen des Gifts wissenschaftlich untersucht, doch die Opfer erhielten bis heute keine Anerkennung oder Entschädigung von den Amerikanern. Diese anerkennen lediglich, dass das Gift die Natur verseucht hat, nicht aber auch die Menschen in Vietnam.
Die USA zahlen nicht für Geschädigte in Vietnam
Dava und die landesweite Vereinigung der vietnamesischen Agent-Orange Opfer, Vava, haben vor US-Gerichten Klagen von vietnamesischen Staatsbürgern eingereicht. Das Vorgehen richtet sich auch gegen Chemiekonzerne wie Dow Chemical und Monsanto. Doch der Erfolg blieb bislang aus. Sowohl die amerikanischen Herstellerfirmen der Herbizide als auch die US-Regierung haben bis heute gegenüber den Vietnamesen keine Schuld eingestanden.
In Vietnam sei es sehr schwierig, einen direkten Zusammenhang zwischen körperlicher oder geistiger Behinderung und dem Dioxin herzustellen, rechtfertigt Christopher Abrams die US-Regierungspolitik. Abrams ist Direktor des Entwicklungsprogramms für Soziales und Umweltfragen der amerikanischen Entwicklungsorganisation USAID in Vietnam.
«Eigentlich ist es ja auch gar nicht wichtig, den Grund der Behinderung zu kennen», sagt er. Denn Agent-Orange-Opfer würden in Vietnam meist noch zusätzlich diskriminiert. Seine Organisation verfolge deshalb einen anderen Ansatz: «Wir unterstützen durch das Gesundheitsministerium Organisationen, die Behinderten helfen.»
Amerikaner werden sehr wohl entschädigt
Bislang hat die US-Regierung ungefähr 100 Millionen Dollar an solche Organisationen in Vietnam gezahlt. Zum Vergleich: In den USA hat die Regierung Veteranen und deren Familien als Agent-Orange-Opfer anerkannt und ihnen rund 4,5 Milliarden Dollar Entschädigung gewährt. Die Chemieunternehmen steuerten zusätzlich mehrere Hundert Millionen Dollar bei.
Die USA machen also einen klaren Unterschied zwischen amerikanischen und vietnamesischen Opfern. Damit versucht Washington. vietnamesische Entschädigungsforderungen in unabschätzbarer Höhe abzuwenden. Einfacher scheint es zu sein, die Entschädigungen für die Folgen in der Umwelt abzuschätzen. So steuert die US-Regierung Millionen Dollar bei, um den ehemaligen Militärflughafen von Da Nang sowie weitere vergiftete Gebiete in aufwendigen und kostspieligen Reinigungsverfahren von den Dioxinrückständen zu säubern.
USAIDS-Vertreter Abrams will als Abgesandter der US-Regierung etwas klarstellen: «Die USA sind nicht verpflichtet, irgendwas zu tun. Wir tun es aus freien Stücken, um das Erbe des Vietnamkriegs hinter uns zu lassen.»
Nach Jahren der politischen und wirtschaftlichen Eiszeit zwischen Vietnam und den USA ist das auch eine Möglichkeit, sich den Weg zurück in das Billiglohnland Vietnam zu ebnen.