Noch ist es nicht allzu lange her, dass selbst ein nüchterner Machtpolitiker wie der kürzlich verstorbene Ex-US-Aussenminister Henry Kissinger für eine Welt ohne Atombomben warb. Danach gefragt, wie dieses Ziel zu erreichen wäre, erwiderte er allerdings: «Ich habe keine Ahnung.»
Inzwischen gilt als blauäugig, wer Atomwaffen abschaffen will. Noch 2017 jubelte man bei Ican, der internationalen Kampagne gegen Atomwaffen, über den Friedensnobelpreis. Vier Jahre später trat der UNO-Atomwaffenverbotsvertrag in Kraft. Doch inzwischen ist bei vielen Angestellten die Stimmung gedrückt.
Die neue Ican-Chefin Melissa Parke, früher Entwicklungsministerin Australiens, hat ihr Amt zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt angetreten. Doch sie gibt sich kämpferisch: «Noch nie seit dem Kalten Krieg stand die Welt so nahe an einem Atomkrieg wie gerade jetzt. Der Kampf gegen diese Massenvernichtungswaffe ist daher dringender als je zuvor.»
Lebhafte Debatte in Europa
Umso irritierender findet sie es, dass nun sogar in Europa eine lebhafte Debatte über den Aufbau eines eigenen Nukleararsenals begonnen habe. Auslöser dieser Debatte ist der mögliche künftige US-Präsident Donald Trump. Seinetwegen misstrauen viele in Europa auf einmal der US-Schutzgarantie. «Doch eigene Atomwaffen bringen Europa nicht mehr Schutz, sondern mehr Risiken», so Melissa Parke.
Tatsächlich bezweifeln auch Militärstrategen, dass eine europäische Atombombe den Kontinent sicherer machen würde. Denn demokratische Regierungen dürften Nuklearwaffen einzig einsetzen, wenn das Überleben des Staates gefährdet wäre. Unterhalb dieser Schwelle, etwa bei einem russischen Überfall auf ein baltisches Land, täten sie das nicht. Denn sie müssten ja dann die Zerstörung von Paris, Brüssel oder Berlin durch russische Atombomben fürchten.
Kurz: Die nukleare Keule ist schlicht zu gross, als dass sie in einer normalen Kriegssituation gebraucht würde. Anders ist das bei Diktaturen wie der nordkoreanischen. Atombomben sind daher Waffen, die hauptsächlich für skrupellose Autokraten nützlich sind.
Schweiz will nichts vom UNO-Abkommen wissen
Trotz dieser Einsicht bleibt das UNO-Verbot von Atombomben umstritten. Zwar haben es mittlerweile 93 Staaten unterzeichnet und 70 ratifiziert. Doch darunter kein einziger, der tatsächlich Atombomben besitzt. «Die USA lobbyieren intensiv hinter den Kulissen bei Nato-Ländern und in der Schweiz, damit sie dem Abkommen nicht beitreten», sagt Ican-Chefin Parke.
Bei Ican ist man enttäuscht, dass die Schweiz dem UNO-Abkommen weiterhin fernbleibt, obschon das Parlament, etliche Kantone und Städte und das IKRK einen Beitritt fordern. Parke: «Die Angelegenheit liegt im Posteingang des Aussenministers. Er müsste nun handeln.» Doch Ignazio Cassis wartet weiter ab. Nun will Ican, zusammen mit Schweizer Organisationen, Druck machen auf den Bundesrat und im Frühjahr eine Volksinitiative lancieren.
Die Forderung nach einem Atombombenverbot ist in der Schweiz wie in vielen anderen Ländern in der Bevölkerung populär. Doch sehr viele Regierungen sehen das angesichts der weltpolitischen Spannungen anders. Für Melissa Parke heisst das: «Wir müssen diesen Trend umkehren.» Bloss: Die Chancen dafür sind momentan bescheiden.