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Queen Victoria und ihre Familie reisen in einer Dampfkutsche, neben ihnen reiten die Menschen auf Lokomotiven.
Legende: Ein Karikaturist stellt sich um 1850 einen Ausritt im im Londoner Hyde Park vor: Dampfgefährte lösen die Pferde ab. Getty Images

Angst vor der Digitalisierung? Ein Historiker rät zu mehr Gelassenheit

Viele fühlen sich von der digitalen Entwicklung überfordert. Doch das sei alles schon dagewesen, sagt Historiker Andreas Rödder. Er zieht Parallelen zwischen der digitalen Transformation und der Industrialisierung im 19. Jahrhundert.

SRF News: Wie lassen sich die beiden Entwicklungen vergleichen?

Andreas Rödder: Wir machen heute kategorial neue Erfahrungen. Das haben die Menschen im 19. Jahrhundert auch gemacht. Sie erlebten einen ganz grundsätzlichen technologischen Wandel. Die Eisenbahn löste menschliche Fortbewegung erstmals von menschlicher oder tierischer Muskelkraft. Das war eine völlig neue Erfahrung der Fortbewegung. Die Elektrizität im späten 19. Jahrhundert kam einer Disruption 1.0 gleich. Das alles zusammen verband sich zu einem Gefühl der vermeintlich richtungslosen Beschleunigung. Wir sehen also: Auf dieses Gefühl hat das 21. Jahrhundert kein Copyright.

Auf das Gefühl der vermeintlich richtungslosen Beschleunigung hat das 21. Jahrhundert kein Copyright.

Der Digitaltag

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Legende: srf

Das war der Digitaltag bei SRF .

Heute befürchtet man eine Entfremdung des Menschen, einen Selbst- und Weltverlust durch die Digitalisierung. Gab es damals dieselben Ängste?

Genau das war die Erfahrung der Zeitgenossen vor dem Ersten Weltkrieg. «Verflucht moderne Welt. Das Schicksal ist so vielgestaltig geworden. Zu viel auf einmal. Keiner kann es fassen», schrieb der Privatsekretär des damaligen deutschen Reichskanzlers 1914 in sein Tagebuch. Die Reaktion auf diese weitverbreitete Vorstellung war eine Abfolge von Angst, Abwehr und Anpassung. Eine Folge war aber auch eine Abkehr in einfachen Lösungen, wie der Sprung ins Dunkle des Krieges oder in totalitäre Ideologien. Dahinter steckt also eine enorme Dimension – auch eine kulturelle und politische.

Eine schwarz-weiss Zeichnung zeigt Männer in Gehröcken die einen Mann am Telefon zuschauen. Im unteren Teil ist der Mann am anderen Ende der Leitung zu sehen, der in einer Kabine sitzt.
Legende: 1891: Das grosse Kabel durch das Meer ist verlegt - Frankreich telefoniert erstmals mit Grossbritannien. Getty Images

Lässt sich die Kommunikation in Echtzeit über intelligente Algorithmen überhaupt mit der Erfindung des Telefons zu vergleichen?

Tatsächlich erleben wir einen neuen Beschleunigungsschub, der nicht nur eine Frage der Quantität ist, sondern auch in Qualität umschlägt. Wir haben eine neue Dimension der Bewegung von Informationen, Sachen, Menschen und der Dichte der Vernetzung. Insofern würde ich keineswegs sagen, das sei nichts Neues unter der Sonne. Aber die kategorial neue Erfahrung haben auch die Menschen im 19. Jahrhundert schon gemacht. Stellen Sie sich vor, dass ein Brief von Bombay nicht mehr vier Wochen, sondern durch den Telegraphen 28 Minuten brauchte. Und mit dem Telefon kam ab 1860 dann auch die Kommunikation in Echtzeit hinzu.

Tatsächlich erleben wir einen neuen Beschleunigungsschub. Aber die kategorial neue Erfahrung haben auch die Menschen im 19. Jahrhundert schon gemacht.
Ein fetter Fabrikant sitzt rauchend auf dem Stuhl und bewacht die auf einem Tisch sitzenden und zu Skeletten abgemagerten Schneider.
Legende: Die britische Satirezeitschrift «Punch» kritisiert um 1870 herum die Arbeitsbedingungen in den Kleiderfabriken. Getty Images

Viele Menschen befürchten, ein Roboter könnte sie dereinst bei ihrer Arbeit ersetzen. Was sagen Sie ihnen?

Ihre Sorgen sind berechtigt. Und es sind die Sorgen des modernen Menschen. Das waren sie schon bei den schlesischen Webern in den 1840er-Jahren, die gegen die Fabrikanten revoltierten. Es sind aber auch die Sorgen der Drucker gewesen, die seit den 1980er-Jahren ihren Job durch die digitalisierte Drucktechnik verloren haben. Die Moderne hat einen permanenten Wandel mit sich gebracht. Und es gibt keine Garantie, dass das Ganze gut geht und wohin es führt.

Die Angst vor einem Jobverlust sind berechtigt. Es sind die Sorgen des modernen Menschen.

Wie erklären Sie sich den gegenwärtigen Alarmismus? Viele sprechen mit Blick auf Google auch von einem neuen Totalitarismus.

Im Moment sehen wir wieder eher die Gefahren der technologischen Moderne. Doch stellen Sie sich noch einmal vor, welche euphorischen Hoffnungen sich mit dem Internet verbunden hatten – gerade was die partizipatorische Demokratie betraf. Tatsächlich haben heute viel mehr Menschen Zugang zu Informationen und Kommunikation als zuvor.

Wir kommen nicht umhin, Komplexität und Unsicherheit zu ertragen, denn es gibt keine sicheren Prognosen.

Lehrt uns die Geschichte, wie wir mit diesen Zukunftsängsten umgehen sollen?

Die Geschichte lehrt uns drei Dinge: Wir kommen nicht umhin, Komplexität und Unsicherheit zu ertragen, denn es gibt keine sicheren Prognosen. Zweitens dürfen wir den politischen Gestaltungsanspruch nicht verlieren. Falls etwas nicht funktioniert, braucht es aber auch eine Bereitschaft, die Dinge wieder rückgängig zu machen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fühlten sich die Menschen auch vom ungebändigten Kapitalismus und der beschleunigten Industrialisierung überfordert und überfahren. Aber durch den Sozialstaat und eine soziale Marktwirtschaft ist es gelungen, beides zu bändigen. Skepsis gegenüber selbstgewissen Prognosen und die Bereitschaft, Komplexität zu ertragen, kann sich mit politischem Gestaltungsanspruch dann verbinden, wenn sie an Offenheit und Reversibilität gekoppelt ist.

Falls etwas nicht funktioniert, braucht es aber auch eine Bereitschaft, die Dinge wieder rückgängig zu machen.

Werden die heutigen Politiker diesen Weg einschlagen?

Sie sind in vielem Agenten der Zivilgesellschaft. Und diese ist entscheidend, denn sie trägt die Politik. Ohne eine lebendige Zivilgesellschaft sind die nötigen Entscheidungen kaum zu treffen.

Das Gespräch führte Samuel Wyss.

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