Wie es um Tarent steht, erfährt man in der Praxis von Grazia Parisi: «Die Krebsrate unter Kindern liegt um 54 Prozent über dem regionalen Durchschnitt», sagt die seit 25 Jahren tätige Kinderärztin. Auch andere Krankheiten seien bei Kindern und Erwachsenen häufiger.
Schuld sind der Feinstaub, die Schwermetalle und das Dioxin, welche die Kamine der zum ArcelorMittal-Konzern gehörenden Stahlfabrik Ilva Tag und Nacht ausstossen: «Am schlimmsten ist es bei Westwind, der die Abgase direkt in die Stadt treibt», so Parisi.
Die Krebsrate bei Kindern liegt um 54 Prozent über dem regionalen Schnitt.
Die Behörden tolerierten die Schadstoffe bisher. Denn die 190'000 Einwohnerinnen und Einwohner leben überwiegend vom Werk: 10'000 arbeiten in der Fabrik, weitere 5000 bis 10'000 in Zulieferbetrieben.
Das Leiden im Quartier Tamburi
Hauptbetroffen ist das Quartier Tamburi, wo gar Schulen geschlossen werden mussten: Mit Bussen verteilte man die Kinder in andere Quartiere. Doch nach der Schule kehren sie zurück und atmen wieder giftigen Staub.
Auch Grazia Parisi hatte ihre Praxis jahrelang in Tamburi, bevor sie in ein weniger exponiertes Stadtviertel zog. Auch an Flucht dachte sie, doch ihr Pflichtgefühl überwog: «Was wäre ich für eine Mutter, Bürgerin und Ärztin, würde ich einfach so davonlaufen?»
Tamburi ist ein düsteres, staubiges Viertel. Man riecht die Fabrik. Passanten winken ab, wollen nichts ins Mikrofon sagen. Dafür sprechen die versprayten Mauern. «Stahl oder Leben – du musst dich entscheiden.» Oder: «Keine weiteren Toten.»
Der lange Kampf der Umweltschützer
In einer Bar wartet der Lehrer Alessandro Marescotti. Er war der erste, der vor 20 Jahren auf die Barrikaden stieg und Zahlen forderte. Die Schadstoffbelastung wurde damals zwar gemessen, doch nicht publiziert. Marescotti spricht von «Omertà», mafiösem Schweigen. Erst die EU habe Italien zur Transparenz gezwungen. Seither wisse man, dass in und um Tarent der Dioxin-Grenzwert x-fach überschritten werde.
Der Staat hat Tarent geopfert. Das ist Umweltrassismus.
Grund genug, das Werk sofort zu schliessen. Doch der Staat setzte stattdessen die Umweltvorschriften für Tarent einfach ausser Kraft. «Der Staat hat Tarent geopfert», sagt Marescotti und spricht von «Umweltrassismus».
Die Hoffnung der Gewerkschaften
Der Forderung der Umweltschützer nach einer sofortigen Stilllegung des Werks widerspricht vor allem die Metallarbeitergewerkschaft Fiom. Die Sektion Tarent leitet Giuseppe Romano, hinter dessen Schreibtisch ein Porträt des Revolutionärs Che Guevara hängt.
Wenn Deutschland das kann, sollte es auch in Tarent möglich sein.
Romano setzt sich seit Jahren dafür ein, dass in Tarent Stahl produziert wird, ohne Menschen zu töten. «Wenn Deutschland das kann, sollte es auch in Tarent möglich sein», ist er überzeugt. Ein Investor müsse das Werk übernehmen und modernisieren. Weil das Zeit brauche, müsse der Staat die Umweltvorschriften weiter aussetzen.
Die Drohung von ArcelorMittal
Die strafrechtliche Immunität ist der grosse Streitpunkt. Denn ArcelorMittal will nur weiterproduzieren, wenn die Umweltgesetze in Tarent weiterhin nicht gelten. Doch die Regierung in Rom, vor allem aber das Movimento Cinque Stelle, will die Gesetze durchsetzen.
Die Gewerkschaften haben schon einen Plan B: Falls ArcelorMittal tatsächlich abspringt, müsse der Staat einspringen. Tatsächlich sind die Regierungsparteien Cinque Stelle und Sozialdemokraten dazu bereit. Doch Geld hat der Staat eigentlich keines. Ob er Ideen hat, wie man umweltverträglich und rentabel Stahl produziert, ist zweifelhaft.