Ein Missbrauchsskandal erschüttert den argentinischen Fussball bis hinauf in die Spitzenklubs des Landes. Wenn es stimmt, was die Staatsanwaltschaft derzeit untersucht, wurden Kinder und Jugendliche in Fussballinternaten während Jahren sexuell missbraucht. Dabei waren die Mechanismen in diesen Sportschulen schon seit Langem bekannt, wie ARD-Korrespondent Ivo Marusczyk im Gespräch erklärt.
SRF News: Wie gross ist das Ausmass dieses Missbrauchsskandals?
Ivo Marusczyk: Man kann es im Moment noch gar nicht richtig ermessen. Es gibt die Vorwürfe gegen die beiden Spitzenklubs Independiente und River Plate, aber es ist jetzt schon absehbar, dass andere Vereine und Sportarten auch in den Fokus geraten werden.
Es ist jetzt schon absehbar, dass andere Vereine und Sportarten auch in den Fokus geraten werden.
Was wirft die Staatsanwaltschaft Independiente und River Plate konkret vor?
Der Vorwurf lautet, dass Jugendliche und tatsächlich auch Kinder, die in den Sportinternaten dieser Vereine untergebracht waren, zum Sex gezwungen worden sind. Man hat sie dafür – da kommen immer mehr widerliche Details ans Tageslicht – teils mit ganz kleinen Geldbeträgen, teils mit Sportausrüstung abgespeist. Missbrauchsopfer bekamen etwa ein neues Paar Fussballschuhe, dafür mussten sie sich den Peinigern hingeben.
«Unglücklicherweise» überrasche ihn das nicht, sagte der Independiente-Cheftrainer. Sind die Mechanismen also schon länger bekannt?
Ich fürchte, man muss das so sehen. Wenn man hier mit Leuten spricht, die die Welt der Fussballvereine und -internate kennen, winken sie nur ab und sagen: «Das wissen wird doch, dass in Fussballinternaten immer wieder solche Sachen passieren.» In diesen Internaten leben oft Kinder und Jugendliche aus ganz armen Verhältnissen. Für sie ist der Eintritt in ein Sportinternat der grosse Gewinn und die einzige Chance, aus den ärmlichen Verhältnissen herauszukommen. Hinzu kommt, dass dort eine strikte, altmodische Hierarchie herrscht, wo Disziplin ganz gross geschrieben wird. Man kann da auch gewisse Parallelen zur katholischen Kirche ziehen, wo in den letzten Jahren ja auch Missbrauchsfälle bekannt geworden sind. Da gelten ähnliche Mechanismen.
Für viele Kinder ist der Eintritt in ein Sportinternat der grosse Gewinn und die einzige Chance, aus den ärmlichen Verhältnissen herauszukommen.
Auch in anderen Sportarten sind Kinder und Jugendliche jahrelang missbraucht worden. Warum blieben sie so lange unentdeckt?
Auch in Europa haben wir ja erst in den letzten Jahren über Übergriffe in bestimmten Einrichtungen gesprochen. In Argentinien wird über Missbrauch und Homosexualität noch viel stärker geschwiegen, als das in Europa der Fall ist. Da ist die argentinische Gesellschaft noch nicht so weit. Aber auch in Europa ist es noch nicht lange so.
Was weiss man über die mutmasslichen Täter?
Noch viel zu wenig. Bekannt ist, dass es generell um Menschen geht, die Zugang zu den Internaten hatten. Man munkelt von Trainern und auch von Schiedsrichtern. Es ist aber auch von Journalisten die Rede. Im Moment überschlagen sich hier die Gerüchte. In den argentinischen Medien kursieren die wildesten und seltsamsten Geschichten. Da bin ich noch vorsichtig. Man muss abwarten, was die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft ergeben. Und diese stehen erst am Anfang.
Das Gespräch führte Marlen Oehler.