Nach dem Aufstand der Wagner-Gruppen um ihren Chef Jewgeni Prigoschin und dem angedrohten Vormarsch nach Moskau bleiben viele Fragen offen. SRF-Russlandkorrespondent Calum MacKenzie liefert die wichtigsten Antworten.
Was wird jetzt aus der Wagner-Gruppe?
Prigoschin hat am Samstagabend erklärt, seine Truppen würden sich zurück in ihre Lager in der Ukraine ziehen. Er selbst geht nach Belarus ins augenscheinliche Exil. Vordergründig sieht es danach aus, als würde eintreten, was Prigoschin mit seinem Aufstand verhindern wollte: Dass die Wagner-Gruppe aufgelöst und in die regulären Streitkräfte Russlands einverleibt wird.
Doch die Wagner-Soldaten sind für den Kreml zur Hypothek geworden. Nach ihrem Aufstand dürften ihnen Putin und seine Militärs kaum mehr trauen – und in der Tat ist es fraglich, ob die bisher sehr eigenständigen Wagner-Offiziere jetzt mit ihren Erzfeinden im Verteidigungsministerium gemeinsame Sache machen wollen. Es ist unwahrscheinlich, dass Wagner im Krieg gegen die Ukraine weiterhin eine Rolle spielt – und es ist nicht auszuschliessen, dass die russischen Sicherheitskräfte nachträglich gegen die Gruppe vorgehen.
Wieso hat Putin die Wagner-Truppen nicht aufhalten können?
Es ist gut möglich, dass er sie hätte aufhalten können, zur echten Konfrontation ist es letztlich aber nie gekommen. Doch Prigoschins Aufstand hat enorme Schwächen im russischen Sicherheitsapparat sowie Mängel in der Befehlskette aufgezeigt. Es scheint zwar so, als läge Prigoschins schnelles Vorrücken auch daran, dass der grösste Teil der russischen Streitkräfte in der Ukraine ist. Aber auch gegen diejenigen Truppen, die sich ihnen entgegenstellten, konnten sich die Wagner-Söldner gut durchsetzen – sie sollen etwa mehrere Helikopter abgeschossen haben.
Bedenklich ist für Putin auch, dass die Wagner-Leute die Grossstädte Rostow und Woronesch ohne grosse Probleme einnehmen konnten. Es herrschte also offenbar eine Unlust unter den russischen Soldaten, sich mit Wagner anzulegen.
Wie ist die Rolle von Lukaschenko beim Putsch zu werten?
Alexander Lukaschenko und sein Regime sind seit den Massenprotesten in Belarus von 2020 zwar erheblich geschwächt, sie mussten sich immer mehr Russland unterordnen. Doch lange galt Lukaschenko eigentlich als gewiefter Politiker, und das hat sich jetzt wieder gezeigt. Er dürfte erkannt haben, dass weder der Kreml noch Prigoschin sich auf eine blutige Auseinandersetzung in Moskau einlassen wollten. Deswegen hat er zwischen den Seiten eine Deeskalation vermittelt.
Lukaschenko kann jetzt plötzlich als einflussreicher Macher dastehen, es verbreitet sich gar die Sichtweise, er habe Putin «gerettet». Für Putin, der mit hartem Eingreifen die Proteste in Belarus gestoppt und damit Lukaschenko gerettet hat, grenzt das an eine Blamage.
Es ist noch unklar, was die Bedingungen der von Lukaschenko verhandelten Abmachung sind. Prigoschin soll offenbar nach Belarus ins Exil. Es stellt sich die Frage, ob er dort sicher sein wird: Belarus ist zunehmend zum Vasallenstaat Russlands geworden und es ist nicht auszuschliessen, dass sich Putin doch noch an Prigoschin rächen will. Gleichzeitig wird es im Interesse von Lukaschenko sein, dass sich die beiden Konfliktparteien nach seinem grossen Coup an ihre Abmachungen halten.
Die Söldner der Wagnertruppen ziehen Richtung Moskau: die Bilder
Wie stark ist die russische Armee ohne Prigoschin in der Ukraine?
Eine der Vorteile, die Wagner den russischen Streitkräften gebracht hat, waren die entbehrlichen Soldaten – oft aus den Gefängnissen rekrutierte Häftlinge – die als billiges Kanonenfutter eingesetzt wurden. Allerdings hat der Kreml bereits zu Beginn dieses Jahres die Wagner-Rekrutierung in den Gefängnissen gestoppt und selbst damit angefangen. Zudem gibt es weitere Söldner-Gruppen und Privatarmeen, auf die Russland in der Ukraine zurückgreift.
Für Wagner kämpften jedoch auch viele gut ausgebildete, langjährige Söldner, die Erfahrung von den Wagner-Einsätzen in Syrien und Afrika mit sich brachten. Diese wären für die russische Armee theoretisch noch nützlich. Aber genau diese sind es auch, die der Kreml jetzt mit grossem Misstrauen beachtet und die auch wenig Interesse haben dürften, in der Ukraine weiterzukämpfen.
Letztlich könnte die russische Armee rein moralisch durch die Ereignisse vom Samstag geschwächt sein. Einerseits werden die Soldaten auch eine Meinung haben zum Konflikt zwischen dem Kreml und Prigoschin, der in ihren Reihen einen gewissen Respekt genoss. Andererseits war der Aufstand, den das Verteidigungsministerium offenbar nicht aufzuhalten wusste, für die Armee eine Demütigung.
Wie geschwächt ist nun Wladimir Putin?
Auf den ersten Blick hat Putin den Aufstand erfolgreich abgewehrt, wenn auch mit Lukaschenkos Hilfe. Die Machtelite, der Sicherheitsapparat, die Armee und der Grossteil der Bevölkerung haben zu ihm gehalten, niemand ist zu Prigoschin übergelaufen. Vorerst sitzt Putin also immer noch fest im Sattel.
Gleichzeitig hat das Debakel vom Samstag massiv an seinem Image und an seiner Autorität gekratzt. Statt ein starker Führer und ein Sicherheitsgarant zu sein, musste er wütend im Fernsehen von Parallelen zum russischen Bürgerkrieg vor über hundert Jahren schwadronieren. Seine Sicherheitskräfte waren während Stunden nicht in der Lage, Wagner aufzuhalten.
Und die reine Tatsache, dass es zum offenen Aufstand gegen seine Macht gekommen ist, zerstört das Bild des einheitlich ergebenen Staatsapparates. Prigoschin hat gezeigt, dass es durchaus möglich ist, Putin direkt anzugreifen. Und dann kommt er auch noch ungeschoren davon, nachdem Putin versprochen hatte, die «Landesverräter» hart zu bestrafen. Dieses Zeichen der Schwäche könnte langfristig für Putin ein grosses Problem sein.