Zum Inhalt springen

#Auschwitz75 Oświęcim: auf ewig ein einzig Mahnmal? Keineswegs!

Heute vor 75 Jahren ging eine Hölle auf Erden zu Ende, die Rote Armee befreite das Konzentrationslager Auschwitz auf polnischem Boden. Staatsoberhäupter aus aller Welt gedenken der anderthalb Millionen Ermordeten, die meisten von ihnen Juden. Und wieder einmal beachtet kaum jemand die Stadt selbst.

Auschwitz ist hübsch. Da ist der Marktplatz, winterstill, gesäumt von Häusern in Pastell, hier ein Erker, dort ein Schnörkel. Da ist aber auch ein Schatten, hier ein Wandbild mit orthodoxen Juden aus alter Zeit, dort eine Tafel, die an ihr Verschwinden erinnert.

Hier stand das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, hier mordeten die Nazis, wie niemand sonst je gemordet hat. Ein alter Mann spaziert vorbei, ein Berufsleben lang hat er für die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau gearbeitet: «Zu viele Menschen in der Welt assoziieren die Stadt Oświęcim mit dieser tragischen Geschichte.»

Totale auf einen Platz.
Legende: Die Stadt Auschwitz ist trotz der schrecklichen Vergangenheit hübsch, wie hier der Marktplatz zeigt. Doch davon will die Mehrheit der Touristen nichts wissen. srf / Sarah Nowotny

Oświęcim, so heisst die Stadt auf Polnisch. Es gibt auch hier Menschen, die fast nur an die Jahre des Mordens denken. Janina Paszek zum Beispiel, 94 – Rosenkränze sind der Schmuck ihrer kleinen Wohnung. 13 war sie, als 1939 die Deutschen kamen. In drei Monaten lernte sie Deutsch – vergessen hat sie die Sprache nie. «Das, was ich erzähle, habe ich vor den Augen, als wäre es wie gestern.»

Fische im Fluss erstickten an der Asche der Toten

Dabei würde sie gerne vergessen, sogar den Namen ihrer Stadt: «Ich wurde hier in Oświęcim und nicht in Auschwitz geboren. Ich hasse diesen Namen, Auschwitz,» sagt Paszek weiter.

Das Tor zu Auschwitz.
Legende: Jegliche bauliche Massnahmen rund um das Lagermuseum müssen von der Regierung abgesegnet werden. SRF / Sarah Nowotny

Janina Paszek war nie im Lager, aber sah das Grauen aus nächster Nähe. Sie sah halb Verhungerte in der Stadt schuften für die Nazis, gab ihnen ihr Frühstück. Sie brachte unter Lebensgefahr Nachrichten, die Inhaftierte irgendwie aus dem Lager geschmuggelt hatten, zu den Priestern der Stadt. Sie sah, wie die Fische im Fluss starben, weil die Deutschen zu viel Asche verbrannter Leichen hineinschütteten.

«Die Stadt wächst – Auschwitz ist kein Stigma»

Box aufklappen Box zuklappen
Porträt von Janusz Chwierut
Legende: SRF / Sarah Nowotny

Oświęcim, auf ewig ein einzig Mahnmal für den Holocaust. Keineswegs, findet Stadtpräsident Janusz Chwierut – auf dem Schrank in seinem Büro steht eine Friedenstaube. «Die Stadt wächst, hier siedeln sich internationale Firmen an, hier gibt es Musik und Kultur. Natürlich, wir erinnern uns – aber Auschwitz ist kein Stigma für uns.»

Da ist die Zahl der Hotelbetten: 600 vor fünf Jahren, 2000 heute. Da ist aber auch eine andere Zahl: 99 Prozent der Touristen, die das Museum Auschwitz-Birkenau besuchen, Millionen jedes Jahr, würdigen Oświęcim keines Blickes. Und übernachten lieber im nahen, grossen Krakau. Dort ist halt mehr los – in Oświęcim, finden einige, sollte gar nichts los sein, das wäre ja pietätslos.

«Vor Jahren», sagt Stadtpräsident Chwierut, «wollte man eine Disko und Läden bauen, gleich nebem dem ehemaligen Lager. Das gehe nicht, fanden viele, fand auch die internationale Presse. Man verzichtete dann aufs Bauen.»

Heute muss ein Vertreter von Polens Landesregierung zu allem Ja sagen, was rund ums Lagermuseum entsteht, auch wenn es nur ein Trottoir ist. Das funktioniert – doch immer noch darf Oświęcim Vieles nicht. «Der Verkehr verstopft unsere Stadt, also wollten wir eine Umfahrungsstrasse bauen.» Doch die Unesco, das Lager Auschwitz gehört zu ihrem Welterbe, verbot Oświęcim die Strasse – zu gut hätte man sie vom Lager aus gesehen. Jetzt lässt die Stadt eine viel teurere, unterirdische Umfahrung bauen.

Janina Paszek, das Kind, musste arbeiten, für die IG Farben, die Firma in Oświęcim, die Geld verdiente mit dem Massenmord. Sie versuchte, höflich zu sein im Büro. «Immer wieder habe ich gesagt: ‹Guten Tag, Guten Morgen, Auf Wiedersehen›» Eines Tages redete ein Kollege auf Polnisch auf sie ein. «Wenn du nicht ‹Heil Hitler› sagst, könntest auch du im Lager landen...» Das schaffte sie nicht, stattdessen sagte sie von nun an: Grüss Gott.

Bild an einer Häuserwand.
Legende: An verschiedenen Orten erinnern Wandbilder an die Vergangenheit von Auschwitz. SRF / Sarah Nowotny

Erinnerungen, neben denen Vieles verblasst ist, was nach dem Krieg geschah. Und auch Vieles, was vor dem Krieg war. Damals, vor 1939, waren 60 Prozent der Einwohner Oświęcims Juden – Janina Paszek war nicht befreundet mit ihnen, aber man lebte ruhig nebeneinander her. Heute ist kein Jude mehr unter den 40'000 Menschen hier.

Natürlich, wir hören Stereotype, im Stil von ‹in welcher Baracke wohnst du denn?›. Aber wir können doch auch stolz sein, dass wir das Andenken an die Opfer in Ehren halten – und trotzdem eine moderne Stadt geworden sind.
Autor: Junger Einwohner von Oświęcim

Die Vergangenheit verschwindet nicht unter der Erde – aber Oświęcim ist deswegen nicht erstarrt. Vor dem Einkaufszentrum, dem Kino finden Viele, ihre Stadt sei heute mehr als das Mahnmal.

Meistgelesene Artikel