Wenn es nach dem Willen der Amsterdamer Stimmbevölkerung gegangen wäre, hätte die neue «Noord/Zuidlijn» (Nord-Süd-Linie) nie angelegt werden dürfen. In einer Konsultativabstimmung sprachen sich 1997 rund 65 Prozent gegen eine neue U-Bahn-Strecke von Nord nach Süd aus. Sie befürchteten, dass die auf Holzpfählen stehende Innenstadt dabei zu sehr in Mitleidenschaft gezogen werden könnte. Weil aber die Stimmbeteiligung viel zu gering war, ignorierte die Stadtregierung das Verdikt des Volkes und gab grünes Licht für den Bau.
Von diesem Urnengang spricht heute niemand mehr. Im Gegenteil: In der niederländischen Hauptstadt überwiegen vor der Eröffnung am 22. Juli Freude und Stolz darüber, dass es trotz schier unlösbarer technischer Probleme geglückt ist, diese rund 10 Kilometer lange Linie zu bauen. Auch wenn sie statt der ursprünglich budgetierten 1,4 Milliarden Euro insgesamt 3,1 Milliarden Euro gekostet hat und es statt 6 deren 16 Jahre gedauert hat, bis die relativ kurze Strecke mit den 8 Stationen fertig war.
Inzwischen ist eine Mehrheit davon überzeugt, dass die neue Metro Erleichterung bringen wird. Zum einen brauchen Pendler, die im Norden wohnen und im Süden arbeiten, nun nicht mehr am Hauptbahnhof umzusteigen. Zum anderen wird dieser auch entlastet, weil viele Buslinien nun in der Peripherie an die «Noord/Zuidlijn» anschliessen.
Zapfenzieher unter dem Bahnhof
Eine der grössten technischen Herausforderungen dieses abenteuerlichen Bauwerks war der riesige Hauptbahnhof. Damit dieses 1889 eröffnete Gebäude nicht im weichen Sumpf versank, liess Architekt Pierre Cuypers es damals mit 9000 Holzpfählen abstützen.
Die Pfähle klebten so stark im Sumpf, dass wir sie nicht rausziehen konnten.
Ein Drittel dieser 15 Meter langen Baumstämme musste nun für den Bau der Metro entfernt werden. Das war nicht einfach: «Die Pfähle klebten so stark im Sumpf, dass wir sie nicht rausziehen konnten», erzählt der 70-jährige Bart Dahmen, der bis zu seiner Pensionierung oberster Bau-Manager der «Noord/Zuidlijn» war.
Schliesslich drückten die Arbeiter jeden einzelnen Pfahl mit hydraulischer Kraft in den Boden, zogen ihn dann mit einem «Zapfenzieher» hoch, sägten ein Stück ab und wiederholten den Vorgang solange, bis sich der Stamm ganz entfernen liess. Eine Sisyphusarbeit, für die sie ein ganzes Jahr benötigten.
An Stelle der Holzpfähle rammten die Metrobauer danach 60 Meter lange Stahlpfähle in den Amsterdamer Morast. Darauf legten sie eine 3 Meter dicke «Tischplatte» aus Beton, die dafür sorgt, dass der schwere Hauptbahnhof nicht in Schieflage gerät. Darunter, das heisst zwischen den «Tischbeinen», brachten sie die zuvor gebauten Sinkelemente für die beiden Metrotunnel an.
Häuser sackten ab
Ein anderes technisches Glanzstück realisierte Bau-Manager Dahmen mit seinem Team im Süden. Weil die dortige Ferdinand Bolstraat zu schmal ist für zwei Röhren nebeneinander, wurden die beiden Tunnel kurzerhand unter den Pfahlfundierungen der Häuser übereinander angelegt. Es sei ein Wunder, dass das geglückt sei, sagt Dahmen rückblickend.
Als ich vom Einkaufen zurück kam, konnte ich meine Wohnungstüre nicht mehr öffnen.
Weniger Glück hatten die Bewohner an der Vijzelgracht im Zentrum. Durch ein Loch in einer undichten Dammwand sank der Grundwasserspiegel innert Minuten um 3 Meter. Die Folge: Mehrere Gebäude an der Vijzelgracht sanken ab. «Als ich vom Einkaufen zurückkam, konnte ich meine Wohnungstüre nicht mehr öffnen», erzählt Anwohner Kees Winkel, dessen 400 Jahre altes Haus um 23 Zentimeter gesunken war. In aller Eile wurden seine Familie und die Nachbarn evakuiert und ihre Wohnungen wegen Einsturzgefahr versiegelt. Das Leck war ein grosser Schlag für Dahmen und sein Team. Der Bau wurde für eineinhalb Jahre stillgelegt.
Grosses Interesse für Probefahrt
Die technischen Schwierigkeiten seien aber nicht der Hauptgrund für die 10-jährige Verspätung gewesen, stellt Bau-Manager Dahmen klar. Vielmehr sei die enorme Anzahl an Veränderungswünschen im Lauf der Jahre schuld, dass es so lange gedauert habe, bis die neue Metrolinie fahrtüchtig geworden ist. Die Politiker seien sich nie bewusst gewesen, was ihre Anpassungen für Konsequenzen auf das ganze Projekt gehabt hätten.
Längst verkehren die neuen weissen Zugskompositionen zu Testzwecken auf der neuen Strecke. In den letzten Wochen kam die Amsterdamer Bevölkerung in Scharen, um eine Probefahrt zu machen – und die mit viel Kunst verzierten Haltstellen zu bewundern.
Gefundene Gegenstände fördern Erstaunliches zutage
Grossen Eindruck machen die 10'000 Fundstücke in der Station Rokin. Während die Passagiere auf einer langen Rolltreppe nach oben gleiten, sehen sie in zwei langen Vitrinen altes Besteck, Tonkrüge, Pfeifen, Münzen, Dolche und andere, fein säuberlich thematisch sortierten Utensilien. Dabei handelt es sich um eine Auswahl von insgesamt 700'000 Gegenständen, die bei den Grabarbeiten der «Noord/Zuidlijn» zum Vorschein gekommen sind.
Die Archäologen haben inzwischen alle Stücke untersucht. In einer wissenschaftlichen Studie kommen sie zum Schluss, dass die ersten Siedler 1170 keine Bauern gewesen seien, wie bisher angenommen, sondern Handwerker und Händler. Nun muss Amsterdam seine Entstehungsgeschichte neu schreiben.