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Schweizer Internetkrieger in St. Petersburg
Aus Echo der Zeit vom 20.10.2017.
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Begegnung mit Marcel Sardo Ein Schweizer Twitter-Scharfschütze in Russland

Unermüdlich kämpft Marcel Sardo für die russische Sache – aus Leidenschaft, nicht für Geld. Das Porträt eines Gläubigen.

Er selber nennt sich «prorussischer Media-Sniper». Marcel Sardo sieht sich selber also als Scharfschütze gegen Medien. Aber der Mann auf dem Nevsky-Prospekt, der berühmten Strasse im historischen Zentrum St. Petersburgs, wirkt nicht gefährlich. Im Gegenteil, er ist ausnehmend freundlich.

Marcel Sardo ist ein Phänomen des Internet-Zeitalters. Er arbeitet nicht für ein offizielles Medium, er ist nicht Journalist – trotzdem lesen viele Menschen, was er schreibt.

Ich bin nicht neutral. Ich nehme Stellung. Und wer auf meinen Twitter-Kanal geht, der sieht, wo ich stehe.

Der Prediger

Sardo ist vor allem auf Twitter unterwegs. Dutzende Kurznachrichten setzt er pro Tag ab. Meist geht es um Russland. Seine Linie ist dabei äusserst wohlwollend gegenüber dem Kreml und äusserst kritisch gegenüber dem Westen.

Grafisches Porträt von Sardo vor einem seiner medienfeindlichen Tweets.
Legende: Marcel Sardo: im richtigen Leben ein freundlicher Mann, im Internet ein ruppiger Provokateur. Twitter

Es gehe ihm darum, ein Gegengewicht zu den etablierten Medien, den «Mainstream-Medien» wie er sagt, zu setzen. Der 49-Jährige ist überzeugt, dass westliche Journalisten ein verzerrtes Bild von Russland verbreiteten – dem will er entgegenwirken.

Die Erweckung

Sein eigentliches Erweckungserlebnis, wenn man so will, hatte Sardo während den Ereignissen auf dem Majdan Nesaleschnosti, dem grossen «Platz der Unabhängigkeit» in der ukrainischen Hauptstadt Kiew 2014. Der Platz war damals das Zentrum der sogenannten Euromaidan-Proteste. Er habe damals Livestreams von den Ereignissen dort gesehen.

Und irgendwann ist mir klar geworden, dass das, was ich in den etablierten Medien sehe, nicht korrespondiert mit dem, was ich online sehe.

Besonders erschüttert haben ihn die zahlreichen Rechtsextremen, die sich am Umsturz auf dem Maidan beteiligt hätten und deren Präsenz von den westlichen Medien einfach unter den Teppich gekehrt worden sei. Die ukrainischen Neonazis passten eben nicht in das Bild, das sich der Westen vom Maidan gemacht habe, erklärt Sardo.

Bild eines medienfeindlichen Tweets von Sardo.
Legende: Der Westen habe ein verzerrtes Bild von Russland und schuld seien die etablierten Medien, sagt Sardo. Twitter

Tatsächlich gibt es erhebliche Differenzen bei der Beurteilung der Proteste auf dem Maidan: Für die meisten Beobachter war das ein Volksaufstand gegen einen autoritären Kleptokraten, den damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch.

Bei den Protesten auf dem Maidan haben sich – und das liess sich damals vor Ort beobachten – breite Schichten der ukrainischen Gesellschaft beteiligt: junge Frauen in Pelzmänteln, Rentner aus der Westukraine, Fussballfans. Dazu kamen auch nationalistische und rechtsextreme Gruppen.

Das Zweifeln

In Russland werden die damaligen Ereignisse jedoch als Putsch bewertet, bei dem rechtsextreme Kräfte die Führung übernommen haben sollen. Strippenzieher sollen der Westen, also die Europäische Union und allen voran die USA, gewesen sein.

Auch Sardo sieht den Maidan so – und daraus leitet sich auch seine Weltsicht ab, vor allem die Überzeugung, dass westliche Medien die Unwahrheit verbreiteten. Marcel Sardo etwa sagt, die Ukraine wäre ein wichtiges Aufmarschgebiet, falls die Nato einen Angriff auf Russland planen würde.

Die Amerikaner bombardieren ja auch um den halben Erdball, um ihre National Security zu verteidigen. Warum soll da nicht Russland auch irgendetwas machen, um seine Nationale Sicherheit zu wahren – und dazu gehört nun mal die Krim.

Sardo ist mit seiner Sicht nicht allein. Viele im Westen haben Sympathien für die Politik des Kreml. Für sie ist nicht Russland der Aggressor in der Ukraine, sondern der Westen; nicht die Russen leben unter einem autoritären Herrscher, sondern die Europäer.

Die Glaubensgemeinschaft

Der Schweizer mit italienischen Wurzeln ist nicht ein verrückter Verschwörungstheoretiker, aber er lebt in einer Blase. Er informiert sich vor allem bei sogenannten «alternativen Quellen» im Internet, bei Leuten also, die so denken wie er.

Er gibt zu, dass er nicht besonders gut russisch spricht. Und in der Ukraine war er noch nie. Trotzdem urteilt er gerne und prägnant. Erst kürzlich hat er die Ukraine beleidigt als «Nazi-Camp, das so tut, als wäre es ein Land».

Überhaupt ist Sardos Stil auf Twitter ruppig. Die USA würden von «Idioten regiert», heisst es bei ihm. Journalisten mit proamerikanischer Haltung nennt er «Medienhuren». Der unflätige Stil online passt so gar nicht zu Sardos freundlichem Auftreten in Natura. Das habe mit Twitter zu tun, sagt er.

Twitter ist schon ein sehr direktes und ungehobeltes Medium. Das sieht man ja auch bei Trump, der auch mitten in der Nacht twittert. Da wird man schon auch mal frech.

Die Selbstaufgabe

Bis zu zehn Stunden pro Tag kann Sardo damit verbringen, Texte zu lesen, zu sortieren und diese über Twitter zu verbreiten. Wieso tut er das? Ist er einer dieser Internet-Trolle, die für ihr digitales Treiben vom Kreml Geld bekommen?

Ich mache es gerne, ich bekomme aber keine Kopeke dafür. Diese Vorstellung, dass wir dafür bezahlt werden, ist absolut lächerlich.

Sardo hat in den 1990er Jahren in der Schweiz für Medien gearbeitet, auch Werbefilme gedreht und später Webauftritte gestaltet. Zuletzt war er freischaffend tätig. Er sagt aber, die Auftragslage sei immer schlechter geworden. Er vermutet sogar, dass er geschnitten wurde wegen seines Engagements für Russland.

Die Berufung

Irgendwann hat er dann einen Anruf aus Russland bekommen. Dort muss jemandem aufgefallen sein, dass Sardo sich für Russland einsetzt und dass er Arbeit sucht. Man bot ihm einen Job an. Nichts politisches. Wie das Unternehmen genau heisst, will Sardo nicht sagen.

Er hat jedenfalls sein Wohnung in Zürich gekündigt und ist nach St. Petersburg gezogen. Noch gleicht sein Leben in Russland eher einem Provisorium. Er lebt in einem Hotel und verdiene für Schweizer Verhältnisse wenig, aber für Russland reiche es.

Der Glaube

Warum setzt sich Sardo so für Russland ein? Er liebe dieses Land, sagt er. Es erinnere ihn an das Italien seiner Kindheit, das der 1980er Jahre.

Mir gefällt an Russland, wie die Gesellschaft aufgebaut ist, der Zusammenhalt der Familie und die – ich sage jetzt mal – Gottesgläubigkeit. Das passt mir eigentlich gut.

Auf Marcel Sardos Twitter-Account prangt als Leitspruch ein berühmtes Zitat des russischen Dichters Fyodor Tjutschew: «Verstehen kann man Russland nicht; an Russland kann man nur glauben.»

Das ist es wahrscheinlich: Sardo ist ein Gläubiger. Er glaubt an Russland. Nicht mehr und nicht weniger.

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