SRF News: Was ist das Ziel Grossbritanniens bei den Brexit-Gesprächen? Welches Verhältnis will London künftig zur EU?
Martin Alioth: Leider kann ich Ihnen das nicht präzise sagen. Dies, obwohl seit der Abstimmung über den Brexit schon ein Jahr vergangen ist. Die bisherige Haltung der Regierung May war von vier Eckpunkten geprägt: Ende der Personenfreizügigkeit, Austritt aus dem Binnenmarkt, Austritt aus der Zollunion, Ende der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg. Das ist nicht mehr mehrheitsfähig. Dies nicht nur, weil die Konservativen ihre Mehrheit im Unterhaus verloren haben. Innerhalb der geschrumpften Tory-Fraktion gibt es eine Minderheit, die letztlich einen «weichen» Brexit.
Ein weicher Brexit würde die Prioritäten umdrehen. Man würde nicht mehr prioritär die Einwanderung zu kontrollieren versuchen, sondern die Interessen der britischen Wirtschaft verteidigen.
Wie könnte ein «weicherer» Brexit aussehen?
Das würde letztlich bedeuten, dass die Prioritäten umgedreht werden. Man würde also nicht mehr wie bisher vom Grundsatz ausgehen, prioritär die Einwanderung zu kontrollieren und zu rationieren, und dann zu schauen, was für die Wirtschaft übrig bleibt. Stattdessen würde man zunächst die Interessen der britischen Wirtschaft verteidigen, namentlich den Zugang zum europäischen Markt, und dann über eine Beschränkung der Personenfreizügigkeit verhandeln. Das ist eine dramatische Gewichtsverschiebung. Im Unterhaus ist sie durchaus mehrheitsfähig, sie widerspricht aber natürlich der bisherigen Linie der Regierung.
Was bedeutet diese doch etwas «schwammige» Position für die Verhandlungen?
Ich finde «schwammig» einen sehr schmeichelhaften Ausdruck. Ich halte die Situation für ein Abbild des Chaos und der Konfusion, die im politischen System in London herrschen. Es ist ganz besonders ein Abbild der Schwäche der neuen Regierung Theresa Mays, die am Mittwoch formell ihre Legislaturperiode beginnt. Die Regierung hat nicht nur in den Augen der europäischen Partner, sondern mehr noch in jenen der britischen Wähler stark an Glaubwürdigkeit verloren.
Das Gespräch führte Lukas Mäder.