- Der türkische Präsident Erdogan schwingt die Nazi-Keule: In Deutschland ist die Empörung gross.
- Aus wirtschaftlicher Sicht ist das für die Türkei ein Hochrisiko-Spiel: Denn deutsche Weltkonzerne unterhalten dort wichtige Produktionsstätten.
- Der politischen Eskalation könnten massive wirtschaftliche «Kollateralschäden» folgen.
Das halbe türkische Kabinett will in Deutschland Wahlkampf machen. Ein Besuch aber ist in der Öffentlichkeit fast unbemerkt geblieben, weiss Erdal Yalcin, Aussenwirtschafts-Experte beim Münchner ifo-Institut für Wirtschaftsforschung: «Letzte Woche hat sich der türkische Vize-Ministerpräsident Mehmet Şimşek mit Regierungsvertretern der Bundesrepublik getroffen. Er bat Deutschland um aktive Hilfe dabei, die türkische Wirtschaft zu stabilisieren.»
Yalcin kann mit einer Zahl die Bedeutung Deutschlands für die türkische Wirtschaft erklären: «Bosch war beispielsweise 2015 für etwa zwei Prozent der Gesamtexporte der Türkei verantwortlich.» Das Tochterunternehmen des deutschen Konzerns produziere in der Türkei Automobilkomponenten für den Weltmarkt.
Die Werkbank Deutschlands
Deutschland ist mit über 400 Firmen in der Türkei vertreten, die etwa sechs Milliarden Euro investieren. Und bei diesen 400 sind nur diejenigen eingerechnet, die mindestens drei Millionen in die Hand genommen haben. In der Türkei sind vor allem der Maschinenbau, die Automobilindustrie und der Chemiesektor vertreten. Deutschland ist der wichtigste Einzelhandelspartner der Türkei.
Eine wichtige Voraussetzung dafür ist die Zollunion zwischen der Türkei und der EU: «Durch die Zollunion können deutsche Unternehmen in der Türkei Tochtergesellschaften gründen. Dort können Firmen wie Bosch, Mercedes oder Siemens zollfrei Zwischengüter produzieren – und sie kostengünstig zur Weiterverarbeitung nach Deutschland schicken.»
Die politischen Spannungen hätten sich bereits auf die Wirtschaft ausgewirkt, sagt Yalcin: «In den aktuellen Wirtschaftsstatistiken sieht man, dass ein starker Rückgang von Kapitalzuflüssen stattfindet.» Im Grunde gebe es nur noch kurzfristige Kapitalzuflüsse aus Europa, so der Wirtschaftsexperte.
Nazi-Vorwürfe
In Deutschland gehen indessen die Emotionen hoch. Bundeskanzlerin Angela Merkel nannte den Nazi-Vergleich von Präsident Erdogan «inakzeptabel». So etwas könne man eigentlich gar nicht kommentieren. Man spürt Merkels Empörung zwischen den Zeilen.
Auf der Strasse zügelt man den Zorn weniger: «Erdogan hat selber Züge von Hitler. Der Vergleich ist eine absolute Frechheit», sagte heute ein Passant vor dem Reichstag in Berlin.
Yalcin rät als Ökonom dennoch von einer Retourkutsche ab. Deutschland könne die Türkei wirtschaftlich unter Druck setzen, aber die Türkei sei schon jetzt in einer ganz schwierigen wirtschaftlichen Lage, allein beim Wechselkurs habe die Türkei 40 Prozent verloren. Eine Eskalation würde ökonomisch allen schaden.
Ungleiche Verträge
Umso mehr, als die Zollunion ein unfairer Vertrag sei: «Die Türkei muss ihren Markt gegenüber Drittstaaten öffnen. Gleichzeitig bekommt sie aber nicht die gleichen Möglichkeiten des Marktzugangs wie die europäischen Staaten.
Würde die EU zum Beispiel mit Indien ein Freihandelsabkommen schliessen, dürfte die Türkei nicht mitverhandeln, müsste ihre Zölle abbauen, ohne dass Indien das gleiche tun müsste, weil die Türkei nicht zur EU gehört.
Beim Export von Fahrzeugteilen nach Indien wären die Zölle laut Prognose des ifo-Instituts für die EU bei Null, für die Türkei bei 14 Prozent. Die Zollunion wurde 1995 unterzeichnet und damals als Vorstufe eines EU-Beitritts angesehen.
Eine «ehrlichere» Perspektive für die Türkei?
Der Ökonom Yalcin plädiert für Vernunft und hat eine gute Nachricht. Ausgerechnet der Brexit ist diese positive Botschaft. In Brüssel denke man laut wieder über ein «Europa der zwei Geschwindigkeiten» nach.
So könne man auch für Ankara eine massgeschneiderte und ehrliche Perspektive entwerfen: «Man könnte sagen: Eine hundertprozentige politische Mitgliedschaft ist im Augenblick nicht sinnvoll.» Stattdessen könne Brüssel eine etwas weniger ausgeprägte Partnerschaft, im Rahmen von Grossbritannien, in Erwägung ziehen.
Wer hätte gedacht, dass in diesem Kontext der Brexit noch eine positive Nachricht sein könnte.