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Besuch in Deutschland «Erdogan hat die Europäer wieder für sich entdeckt»

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan ist auf Staatsbesuch in Deutschland. Spätestens seit dem Putschversuch in der Türkei vor zwei Jahren und der Verhaftung von Oppositionellen und deutschen Journalisten ist die Stimmung zwischen den beiden Ländern angespannt. Was von dem Treffen zu erwarten ist, erläutert der Journalist Thomas Seibert.

Thomas Seibert

Journalist in der Türkei

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Thomas Seibert verdiente sich seine journalistischen Sporen bei der «New York Times» und den Nachrichtenagenturen Reuters und AFP, bevor er 1997 als freier Journalist in die Türkei ging. Nach einem kurzen Zwischenhalt als Berichterstatter in den USA kehrte er im Juni 2018 nach Istanbul zurück.

SRF News: Wie wird Erdogan in Deutschland empfangen?

Thomas Seibert: Ihm werden zuerst militärische Ehren zuteil. Dann gibt es ein erstes Treffen mit Kanzlerin Merkel und am Abend ein Staatsbankett. Das Ganze wird von vielen Protestdemonstrationen in Berlin begleitet. Aber beide Seiten dürften sich bemühen, atmosphärisch eine gute Ausgangsbasis für diesen Besuch zu schaffen.

Seit einiger Zeit herrscht zwischen Erdogan und Merkel Eiszeit. Warum sollte sich denn die Beziehung gerade jetzt verbessern?

Beide Seiten haben ein Interesse daran. Für die Türken ist es so, dass sie in einer schweren Wirtschafts- und Finanzkrise stecken. Sie brauchen daher ausländische Investoren. Politisch ist Erdogan im Westen durch einen schweren Streit mit den USA isoliert. Er braucht neue Verbündete. Deshalb hat er die Europäer wieder für sich entdeckt.

In Deutschland leben zwei Millionen Türken mit türkischem Pass, aber auch zwei Millionen Bundesbürger türkischer Abstammung.

Auch Deutschland auf der anderen Seite ist nicht daran interessiert, dass die Türkei wirtschaftlich kollabiert. Die Deutschen befürchten eine neue Fluchtwelle von Türken in die Bundesrepublik. Und ausserdem hat Deutschland auch grosse wirtschaftliche Interessen in der Türkei. Mehr als 7000 Unternehmen aus der Bundesrepublik sind in der Türkei tätig.

Was erhofft sich denn die Türkei konkret von Deutschland?

Erdogan geht es da um zwei Dinge. Zum einen wirbt er hier um die Rückkehr von deutschen Investoren in die Türkei. Zum anderen möchte er die politische Unterstützung der Bundesregierung für mehrere Projekte auf europäischer Ebene. Da geht es vor allen Dingen um eine Ausweitung der Zollunion zwischen der Türkei und der EU.

Ein Thema sind in Deutschland lebende Türken, die gegenüber der Türkei kritisch sind. Das Erdogan-Regime bezeichnet sie als Putschisten. Glaubt Erdogan, dass er eine Auslieferung dieser Systemkritiker erwirken kann?

Er wird auf jeden Fall wieder versuchen, Merkel dazu zu bringen, diese Leute auszuliefern. Es geht dabei zum einen um kurdische Aktivisten, zum anderen um Mitglieder der Gülen-Bewegung, die für den Putsch von 2016 verantwortlich gewesen sein soll. Es geht aber auch um unliebsame Journalisten, die aus der Türkei nach Deutschland geflohen sind. Bisher liefert die deutsche Justiz diese Leute nicht an die Türkei aus, weil angenommen wird, dass sie in der Türkei kein faires Verfahren zu erwarten haben.

Es geht allenfalls darum, ein Signal für einen Neuanfang zu setzen, zu zeigen, dass man wieder miteinander reden will.

Merkel wird das Thema wahrscheinlich mit dem Appell an Erdogan verbinden, zu rechtsstaatlichen Verhältnissen in der Türkei zurückzukehren. Da wird der türkische Präsident nicht sehr viele Zugeständnisse machen. Ich glaube nicht, dass man bei dem Thema weiterkommt.

Erdogan verbindet seinen Staatsbesuch mit der Einweihung einer zentralen Moschee des umstrittenen Islamverbands Ditib in Köln. Gegen diese Einweihung hat es bereits im Vorfeld Proteste gegeben. Warum hält Erdogan an seinem Besuch fest?

Das hat mit der türkischen Selbstsicht zu tun. Die Türkei fühlt sich verantwortlich für alle Türken im Ausland. Und das betrifft besonders die Türken in Deutschland, denn dort leben ja zwei Millionen Türken mit türkischem Pass, aber auch zwei Millionen Bundesbürger türkischer Abstammung. Erdogan fühlt sich für alle verantwortlich und will deswegen diese Moschee besuchen. Die Deutschen haben den Verdacht, dass Erdogan die türkische Gemeinde in Deutschland für seine Zwecke ausnutzen will. Und deshalb ist dieser Besuch in Köln so delikat.

Präsident Erdogan hat im Vorfeld gesagt, sein wichtigstes Ziel in Deutschland sei es, die Beziehungen zu Deutschland zu verbessern. Kann er dieses Ziel mit diesem Staatsbesuch erreichen?

Ich glaube nicht, dass es einen grossen inhaltlichen Durchbruch während des Besuches geben wird. Es geht allenfalls darum, ein Signal für einen Neuanfang zu setzen, um zu zeigen, dass man wieder miteinander reden will. Aber die Probleme zwischen diesen beiden Ländern, die werden erst einmal bleiben. Ich glaube nicht, dass sich eine von den beiden Parteien während dieses Besuches substanziell bewegen wird.

Das Gespräch führte Monika Glauser.

Proteste in Berlin gegen den Erdogan-Besuch

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Nach der Ankunft des türkischen Präsidenten Erdogan in Berlin haben in der Nacht auf Freitag in mehreren Bezirken der deutschen Hauptstadt Autoreifen und Mülltonnen gebrannt. Ob es einen Zusammenhang mit dem Erdogan-Besuch gibt, ist laut Polizei noch unklar. In Kreuzberg fand am Donnerstagabend eine unangemeldete Demonstration von 100 bis 150 Erdogan-Gegnern statt. Die grösste von mehreren angemeldeten Protesten ist für diesen Nachmittag geplant.

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