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Brexit-Chaos Theresa May droht ein erneutes Scherbengericht

Noch vor zwei Wochen, unmittelbar vor ihrer historisch hohen Niederlage ihres Scheidungsabkommens mit der Europäischen Union, versicherte Theresa May dem Unterhaus, dieser Vertrag sei in Stein gemeisselt. Die EU werde das 585-seitige Vertragswerk nicht neu aufschnüren, um den Streit innerhalb der britischen Konservativen beizulegen.

Kehrtwende

Am Dienstag wurde eine neue Partitur gespielt: Die britische Premierministerin flehte die Parlamentarier an, ihr ein deutliches Mandat für Nachverhandlungen in Brüssel zu gewähren. Sie habe, so behauptete May, die Zeit seit ihrer Niederlage damit zugebracht, den Beschwerden und Bedenken Rechnung zu tragen. Deshalb unterstütze sie den Antrag eines ihrer prominenten Hinterbänklers. Sir Graham Brady, Vorsitzender aller konservativen Abgeordneten, die kein Regierungsamt bekleiden, forderte einen – nicht näher definierten – Ersatz für den so genannten Backstop. Das Unterhaus stimmte mit 317 gegen 301 Stimmen zu.

Unbequemes Irland

Der «Backstop» bildet das Filetstück des Scheidungsvertrags. Er soll die versprochene Unsichtbarkeit der Grenze zwischen dem britischen Nordirland und der Republik Irland – der neuen Aussengrenze der EU – gewährleisten. Zu diesem Zweck bliebe das ganze Königreich in einer Zollunion mit der EU, bis ein Handelsvertrag vereinbart ist, der die Grenze ebenfalls hinfällig macht. Eine zeitliche Begrenzung ist nicht vorgesehen.

Geisel der Brexiteers

Der Widerstand der radikalen Brexit-Befürworter hatte massgeblich zu Mays Niederlage vor zwei Wochen beigetragen. Doch anstatt Verbündete bei gemässigten Oppositionspolitikern zu suchen, begab sich May in Geiselhaft dieser unversöhnlichen EU-Gegner, obwohl die EU unzählige Male wiederholt hat, das Scheidungsabkommen sei besiegelt.

«Märchenland»

Caroline Lucas, die einzige grüne Abgeordnete im Unterhaus, bezeichnete dieses Vorgehen als Ausflug ins Märchenland. Sie hat Recht. May muss Mitte Februar die Ergebnisse ihrer Bemühungen nach Westminster zurückbringen; dann droht ihr ein erneutes Scherbengericht; weniger als sechs Wochen vor dem gesetzlich festgelegten Austrittsdatum. Die Bemühungen überparteilicher Gruppen, eine verbindliche Verschiebung dieses Termins zu erzwingen, wurden am Dienstagabend vom Unterhaus verworfen. Doch das mag sich ändern, wenn der vertragslose Zustand unmittelbar bevorsteht.

Martin Alioth

Ehemaliger Grossbritannien- und Irland-Korrespondent, SRF

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Der ehemalige Grossbritannien- und Irland-Korrespondent von Radio SRF lebt seit 1984 in Irland. Er hat in Basel und Salzburg Geschichte und Wirtschaft studiert.

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