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Chemieunfall in Indien Schrei nach Gerechtigkeit: «Das Unglück hat unser Leben ruiniert»

Fast 40 Jahre nach dem schlimmsten Chemieunfall der Geschichte in Bhopal, im zentralindischen Bundesstaat Madhya Pradesh, kämpfen Zehntausende Opfer und ihre Familien noch immer um Gerechtigkeit und Würde. Ihre letzte Hoffnung ist der Oberste Gerichtshof.

In einem vollgestopften kleinen Zimmer sitzt Aamna Bi auf ihrem Bett. Nur ein Vorhang trennt das Wohnhaus der alten Frau von der lauten Strasse. Wenn sie daran denkt, was die giftige Gaswolke aus ihrem Leben gemacht hat, kommen ihr noch immer die Tränen. «Wenn nur mein Mann noch leben würde. Dann würde er für uns sorgen.»

In der Unglücksnacht verlor Aamna Bi drei Söhne. Ein Jahr später starb auch ihr Mann.
Legende: In der Unglücksnacht verlor Aamna Bi drei Söhne. Ein Jahr später starb auch ihr Mann. SRF/Maren Peters

Doch ihr Mann lebt schon lange nicht mehr. Er ist eines von bis zu 25'000 Opfern einer der grössten Industriekatastrophen aller Zeiten. In der Nacht vom 2. auf den 3. Dezember 1984 entwich aus einer Pestizidfabrik des US-Konzerns Union Carbide im indischen Bhopal eine giftige Gaswolke. Sie überraschte Aamna Bi und ihre sechsköpfige Familie im Schlaf.

«Überall lagen tote Körper»

 «Wir wussten nichts von dem Gasunfall. Wir fingen an zu husten, es roch scharf wie verbrannter Chili», erinnert sich die alte Frau. «Ich musste mich übergeben.» Ihnen allen brannten die Augen und schwollen zu. Sie konnten nichts mehr sehen. «Wir fassten uns an den Händen und versuchten, wegzulaufen. Aber überall lagen tote Körper.»

Auf einem Transparent steht «Hang Anderson». Warren Anderson war Chef von Union Carbide.
Legende: Warren Anderson war Chef von Union Carbide, als die Katastrophe passierte. Er wurde mit internationalem Haftbefehl von der indischen Regierung gesucht, aber die USA verweigerten die Auslieferung. SRF/Maren Peters

In dieser Nacht verlor Aamna Bi drei Söhne – zwei, acht und zehn Jahre alt waren sie. Ihr Mann wurde noch in der Nacht ins Spital eingeliefert und mit Sauerstoff beatmet. Er blieb ein ganzes Jahr. Dann starb auch er.

Als Entschädigung erhielt die Witwe 25'000 Rupien – umgerechnet gut 280 Franken. Das war ihr Teil der Kompensation, auf die sich der US-Konzern Union Carbide mit der indischen Regierung im Jahr 1989 geeinigt hatte. Die allermeisten Opfer wurden ohne weitere Prüfung in die Kategorie der geringfügig Betroffenen eingeteilt und erhielten 25'000 Rupien – selbst, wenn sie schwere Schäden hatten. Der Konzern zahlte einmalig 470 Millionen Dollar an die indische Regierung – fünf Prozent des damaligen Konzernumsatzes – und kaufte sich damit von jeder Schuld frei.

Aamna Bi brachte ihre Restfamilie mühsam mit Putzarbeiten und immer neuen Krediten durch. «Das Gasunglück hat uns ruiniert. Wir fühlen uns wie Bettler», sagt sie.

Viele Krebserkrankungen, viele Fehlbildungen bei Kindern

Ramesh Bhargav war noch ein junger Arzt, als die Giftwolke über Bhopal zog. Er hatte Nachtschicht im Hamidia-Spital, im Zentrum Bhopals. Das Spital ist nicht weit entfernt von der alten Union-Carbide-Fabrik. «Wir wussten nicht, wie wir die Opfer behandeln sollten», sagt der Arzt, der inzwischen pensioniert ist. «Also gaben wir Steroide und Sauerstoff. Ich fühlte mich hilflos. So viele Tote. Und viel zu wenig Ärzte.»

Ramesh Bhargav hatte in der Unglücksnacht Dienst im Spital.
Legende: Ramesh Bhargav hatte in der Unglücksnacht Dienst im Spital. SRF/Maren Peters

Union Carbide weigerte sich, zu sagen, welche Chemikalien beim Unglück entwichen waren. Ärzte und Ärztinnen konnten nur die Symptome behandeln. Viele der Gasopfer hätten später chronische Krankheiten entwickelt, sagt der Doktor: Krebs, Tuberkulose und andere Lungenkrankheiten, Herzkrankheiten, Nierenprobleme, Diabetes.

Studien zeigen, dass in Bhopal überdurchschnittlich viele Menschen an chronischen Krankheiten leiden. Inzwischen weiss man auch, warum: Bei dem Unglück entwich das hochgiftige Gas Methylisocyanat aus der Fabrik. Es geriet über die Atmung in den Blutkreislauf und schwächte das Immunsystem.

Es gibt hier keine einzige Strasse ohne Krebs- oder Nierenkranke.
Autor: Rachna Dhingra Aktivistin

Rachna Dhingra steht am Rand einer Strassenbrücke im alten Teil von Bhopal. Die Aktivistin der Bhopal Group for Information and Action zeigt auf den breiten Teppich von Slums unterhalb der Brücke und sagt: «Es gibt hier keine einzige Strasse ohne Krebs- oder Nierenkranke.» Rund 100'000 Arme wohnten hier zum Zeitpunkt des Unglücks. Deren Enkelkinder leiden heute auffallend oft an Fehlbildungen.

Noch heute leiden Kinder aufgrund der Chemiekatastrophe an Fehlbildungen. Hier gedenken Nachkommen den Opfern von 1984.
Legende: Noch heute leiden Kinder aufgrund der Chemiekatastrophe an Fehlbildungen. Hier gedenken Nachkommen den Opfern von 1984. EPA/SANJEEV GUPTA

Direkt hinter den Slum-Hütten – und von der Brücke aus gut zu sehen – ragt noch immer die völlig ungeschützte Ruine der alten Union-Carbide-Fabrik in den Himmel. Auf dem Rasen davor grast friedlich eine Herde Ziegen.

«Kinder wachsen nicht richtig»

Auch knapp 40 Jahre nach der Chemiekatastrophe ist niemand auf die Idee gekommen, das Gelände der Union-Carbide-Fabrik zu reinigen – nicht der US-Konzern Dow Chemical, der Union Carbide 2001 gekauft hatte, und auch nicht die Regierung des Bundesstaates Madhya Pradesh, die das verseuchte Gelände und die Unglücksfabrik übernommen hatte.

Das zuständige Ministerium mit dem Namen «Gas Relief & Rehabilitation Department» wollte Fragen weder schriftlich noch mündlich beantworten. Dow Chemical erklärt derweil auf seiner Homepage ausführlich, warum sich der Konzern nicht in der Pflicht sieht.

Der US-Konzern Union Carbide entleerte Chemieabfälle in offenen Teichen; sie existieren noch heute.
Legende: Der US-Konzern Union Carbide entleerte Chemieabfälle in offene Teiche; sie existieren noch heute. SRF/Maren Peters

Dabei gäbe es noch viel zu tun. Aktivistin Dhingra zeigt auf die Elendsviertel unterhalb der Brücke. «Das Grundwasser hier ist einem Umkreis von fast drei Kilometern verseucht», sagt sie. Union Carbide habe seinen Giftmüll über Jahre einfach in oberirdische Teiche entsorgt. Doch das kam erst viel später ans Tageslicht.

Guddi Sen lebt mit ihrer Grossfamilie im Elendsquartier «Blue-Moon», direkt neben der alten Union-Carbide-Fabrik. Drei Generationen unter einem Dach – und fast alle krank. «Ich habe Brustschmerzen und Atemprobleme», sagt Grossmutter Singh. Viele aus der Familie leiden auch unter Hautkrankheiten und Bauchschmerzen. «Und die Kinder wachsen nicht richtig.»

Auch das Wasser war verseucht

Sie hätten alle jahrelang kontaminiertes Wasser getrunken. Auch noch, nachdem vor gut 20 Jahren bekannt wurde, dass das Wasser verseucht ist. «Die Regierung hat Tankwagen gebracht, aber auch dieses Wasser war verschmutzt», sagt Guddi Sen. Aber sie hätten keine Alternative gehabt.

Guddi Sen (ganz rechts) mit ihrer Familie. Ihr Mann ist Gasopfer.
Legende: Guddi Sen (ganz rechts) mit ihrer Familie. Ihr Mann ist Gasopfer, die anderen Familienmitglieder haben jahrelang kontaminiertes Wasser getrunken. SRF/Maren Peters

Aus Protest marschierten Betroffene zweimal bis in die indische Hauptstadt Delhi – 37 Tage lang, fast 800 Kilometer weit. Erst vor acht Jahren verlegte die Regierung schliesslich eine Wasser-Pipeline in die betroffenen Slums. Aber die Leitungen seien oft kaputt, erzählen Anwohnerinnen. Das Trinkwasser vermische sich dann mit Abwasser.

Spitalleiter: «Viele leiden unter chronischen Atemproblemen»

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Dr. Satinath Sarangi ist Gründer und Leiter des privaten und stiftungsfinanzierten Sambhavna Hospitals in Bhopal. Seit der Gründung 1996 wurden dort mehr als 36'000 Menschen kostenlos behandelt. Sie alle sind chronisch krank, weil sie entweder Opfer des Gasunglücks sind oder jahrelang kontaminiertes Wasser aus der Umgebung der Union-Carbide-Fabrik getrunken haben. Süd-Asien-Korrespondentin Maren Peters hat mit ihm gesprochen.

SRF News: Was sind die häufigsten Krankheiten, die Sie hier behandeln? 

Satinath Sarangi: Viele Patientinnen und Patienten leiden unter chronischen Atemproblemen, oft kombiniert mit Gelenkproblemen und Auto-Immunkrankheiten wie Allergien. Überdurchschnittlich viele Patienten haben auch Schilddrüsenprobleme. Und von den Frauen leiden auffallend viele unter Zysten, was zu unregelmässiger und sehr schmerzhafter Menstruation führt.

Sie behandelt Patientinnen und Patientinnen mit einer Mischung aus klassischer Medizin und alternativen Methoden wie Ayurveda. Warum gerade so?

Weil wir der Meinung sind, dass viele der Opfer in öffentlichen Spitälern falsch behandelt worden sind. Sie haben zu viele und falsche Medikamente bekommen. Das hat ihr Leiden nicht verbessert. 

Können Sie ein Beispiel geben?

Wir wissen heute, dass das Gas Methylisocyanad, das bei dem Unglück freigesetzt wurde, das Immunsystem schwächt. Weil Union Carbide geheim hielt, welches Gas damals entwichen ist, wurden die Opfer einfach mit Steroiden behandelt, also Schmerzmitteln, und das über Jahre. Das hat die Nieren der Opfer zusätzlich belastet, denn über die Nieren werden alle toxischen Stoffe ausgeschieden, auch die Abbauprodukte der Schmerzmittel. Unter den Gasopfern sind Nierenkrankheiten in den letzten Jahren so häufig gewesen, wie nirgendwo sonst im Land.  

Das Gasunglück liegt fast 40 Jahre zurück. Ist inzwischen bekannt, was die beste Behandlungsmethode wäre?

Nein. Union Carbide hat Forschungsdaten unter Verschluss gehalten. Und auch indische Forschungsanstalten haben bis heute keine Studien vorgelegt. Es gibt eine Lücke zwischen Forschung und Behandlung. Wir wissen auch, dass bestimmte Studien gestoppt wurden, als sich abzeichnete, wie die Ergebnisse ausfallen würden.

Was meinen Sie genau?

Ein Spital in Bhopal hat zum Beispiel erforscht, warum so viele Kinder in Bhopal krank auf die Welt kommen. Nach eineinhalb Jahren zeigte sich, dass es überdurchschnittlich oft Kinder von Gasopfern sind, die ihren Altersgenossen hinterherhängen – viele sind zum Beispiel deutlich kleiner. Der Forschungsleiter, dem ich nahestand, bekam einen Anruf aus Delhi und musste die Studie abbrechen. Wir haben dann eine eigene Studie gemacht und nachgewiesen, dass Kinder von Gasopfern tatsächlich kleiner und dünner sind und kleinere Köpfe haben als Kinder von Nicht-Gasopfern.

Während die Opfer der Wasserkontamination nie eine Entschädigung für ihr Leiden bekamen, hoffen viele Gasopfer noch auf späte Gerechtigkeit durch den Obersten Gerichtshof Indiens. Die indische Regierung hatte beantragt, das Kompensationspaket von 470 Millionen Dollar aus dem Jahr 1989 wieder aufzuschnüren. Mit der Begründung, dass das ganze Ausmass der Schäden für Menschen und Umwelt damals noch nicht bekannt gewesen sei.

Doch die Chancen auf späte Gerechtigkeit stehen schlecht: Kurz vor dem erwarteten Urteil liessen die Richter verlauten, es gebe keinen Grund, das einmal geschnürte Paket neu zu verhandeln. Wenn die Regierung so besorgt sei über die Opfer, dann solle sie doch selbst in die Tasche greifen.

Echo der Zeit, 27.02.2023, 18:00 Uhr

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