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Coronavirus in Grossbritannien «Die Dunkelziffer bei den Infektionen muss riesig sein»

Im Kampf gegen das Coronavirus hat Premier Boris Johnson die Bevölkerung am Montagabend angewiesen, zuhause zu bleiben. Läden, die nicht der Grundversorgung dienen, wurden geschlossen. Die Regierung hatte sich lange gegen strengere Massnahmen gesträubt.

Forscher kritisieren, man habe zu lange gewartet. Sie befürchten, Grossbritannien könnte noch härter getroffen werden als Italien. Die hohe Dunkelziffer lasse ein Mehrfaches der offiziellen Infektionszahlen vermuten, sagt Korrespondent Martin Alioth.

Martin Alioth

Ehemaliger Grossbritannien- und Irland-Korrespondent, SRF

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Der ehemalige Grossbritannien- und Irland-Korrespondent von Radio SRF lebt seit 1984 in Irland. Er hat in Basel und Salzburg Geschichte und Wirtschaft studiert.

SRF News: Die britische Regierung hat lange zugewartet. Warum jetzt der Sinneswandel?

Martin Alioth: Übers Wochenende kippte die Unterstützung der Medien für den Regierungskurs. Auch konservative Zeitungen kritisierten die Laissez-faire-Politik von Boris Johnson, die Wankelmütigkeit der Regierung und die unpassenden Scherze des Premiers. Die Schulen schlossen erst Montagfrüh. Man sah, dass sich die Leute nicht an die puren Empfehlungen der Regierung hielten, namentlich im Raum London als Epizentrum der britischen Epidemie.

Was tut die Regierung neben den Einschränkungen im öffentlichen Leben, um die Krise in den Griff zu bekommen? Vermehrt testen?

Das ist ein angekündigtes Ziel, aber es geht sehr langsam voran. Die britischen Testzahlen werden täglich kumulativ veröffentlicht. Aber das genügt noch lange nicht für eine so grosse Bevölkerung.

Ich kann da nur auf eine riesige Dunkelziffer bei den Infektionen schliessen.

Italienische Ärzte haben schon länger gewarnt, Grossbritannien renne sehenden Auges in die Katastrophe. Ist es schon zu spät?

Ich fürchte, das könnte der Fall sein. Eine morbide Arithmetik: Die neuen Schweizer Zahlen sprechen von rund 9000 Infektionen und 86 Todesfällen. Die Bevölkerung Grossbritanniens ist achtmal grösser, doch die gestrigen Zahlen zeigten nur 6700 Infektionen, dafür aber 335 Tote. Ich kann da nur auf eine riesige Dunkelziffer bei den Infektionen schliessen.

Grossbritannien setzte bisher auf eine Durchseuchung. Das war gefährlich. Wie reagieren die Menschen auf die Kehrtwende?

Aus ersten Meinungsumfragen geht hervor, dass die überwältigende Mehrheit den neuen Kurs der Regierung deckt. Nur etwa vier Prozent der Befragten kritisierten den Kurs. Aber etwa 40 Prozent sind der Meinung, es werde immer noch zu wenig getan.

Reine Empfehlungen und Ratschläge haben nicht funktioniert, um der Bevölkerung den Ernst der Lage vor Augen zu führen.

Bisher fehlte ganz klar die Dringlichkeit, um das Verständnis für die Krise zu wecken, weil die Massnahmen nicht verbindlich waren. Reine Empfehlungen und Ratschläge haben nicht funktioniert, um der Bevölkerung den Ernst der Lage vor Augen zu führen.

Das britische Gesundheitswesen ist chronisch überlastet. Ist das Land für eine grössere Anzahl Erkrankter gerüstet?

Das ist die grosse Frage. Es ist viel gemacht worden in den letzten Tagen: Es gibt neue Kapazitäten im Gesundheitssystem. Die Privatspitäler wurden ganz in den NHS, den National Health Service, integriert. Es gibt neue Geräte. Zum Beispiel bauen Autofabriken jetzt Beatmungsgeräte und Schnapsbrennereien produzieren Desinfektionsmittel. Bei der Schutzkleidung hapert es offenbar noch. Die Regierung behauptet, die Anzüge für das Gesundheitspersonal seien vorhanden, aber am falschen Ort. Es sei also ein logistisches Problem.

Man muss wissen, dass der NHS in Grossbritannien eine geradezu totemische Verehrung geniesst. Es ist ein identitätsstiftendes Symbol. Die Unterstützung der Bevölkerung für den Schutz der Gesundheitsbediensteten wäre also da, wenn die Regierung vielleicht etwas früher begonnen hätte, den Ernst der Lage auch klarzumachen.

Das Gespräch führte Brigitte Kramer.

Rendez-vous, 24.03.2020, 12:30 Uhr ; 

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