SRF News: Seit dem Putschversuch vor einem Jahr wurden rund 50'000 Menschen festgenommen und teils vor Gericht gestellt. Ist dieser Prozess gegen «Cumhuriyet» nur ein weiteres Beispiel?
Iren Meier: Der Prozess gegen die «Cumhuriyet»-Journalisten ist viel mehr als nur ein weiteres Beispiel. Heute wird der ältesten unabhängigen Zeitung der Türkei der Prozess gemacht, und es stehen einige der profiliertesten Journalisten und Autoren des Landes vor Gericht.
Sind heute zum Prozessauftakt in Istanbul irgendwelche Informationen aus Gerichtssaal nach aussen gedrungen?
Einige der angeklagten Journalisten haben heute eindrückliche Plädoyers für die Presse- und Meinungsfreiheit gehalten. Sie verwahrten sich dagegen, dass Journalismus ein Verbrechen sei und bezeichneten die Anklage als absurd.
Welche Bedeutung hat diese Zeitung?
«Cumhuriyet» hat eine grosse Bedeutung. Sie hat fünf Militärputsche überlebt, obwohl viele ihrer Journalisten verfolgt und verhaftet oder gar gefoltert und getötet wurden. Die Journalisten haben sich nie gebeugt, weder der Militärdiktator noch jetzt dem immer autokratischeren Präsidenten Erdogan. «Cumhuriyet» heisst übersetzt «Republik». Die Zeitung steht für die Werte der Republik, des Rechtsstaates und der säkularen Türkei mit Menschen- und Bürgerrechten. Sie ist die letzte grosse unabhängige Stimme dieser anderen Türkei?
Wie lautet die offizielle Anklage?
Unterstützung und Beihilfe für bewaffnete Terrororganisationen. Damit ist Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen gemeint. Diesem wirft Erdogan vor, er habe den Putschversuch vom vergangenen Sommer lanciert. Dann geht es um die kurdische Arbeiterpartei PKK, die in der Türkei eine Terrororganisation ist.
Gegen die Anklage spricht auch der redaktionelle Kurs von «Cumhuriyet», der seit langem sehr kritisch gegenüber Gülen und auch gegenüber der PKK ist.
Die Anwälte, die die 300-seitige Anklageschrift einsehen konnten, sehen keinerlei Beweise für diesen Verdacht. Die ganze Anklage stütze sich nur auf Tweets, News und Kolumnen. Und sie kriminalisiere Journalisten, die nur ihre Arbeit machten, indem sie beispielsweise einen Kurdenführer interviewten. Gegen die Anklage spricht auch der redaktionelle Kurs von «Cumhuriyet», der seit langem sehr kritisch gegenüber Gülen wie auch gegenüber der PKK ist.
Wer sind die 17 Journalisten, von denen die meisten schon seit Monaten in Haft sitzen?
Es sind nicht nur Journalisten. Es ist das ganze Leitungsgremium samt Herausgeber und administrativen Mitarbeitern. Es sind einige der profiliertesten Autoren der Türkei darunter. Etwa der in der ganzen Region hochgeachtete Journalist Kadri Gürsel. Aber auch der 76-jährige Theaterregisseur und Autor Aydin Engin, der wegen der Militärdiktatur zwölf Jahre im Exil lebte.
Dazu kommt der ehemalige «Cumhuriyet»-Chefredaktor Can Dündar, der die Waffenlieferungen der Türkei an die Dschihadisten in Syrien aufdeckte und nach einen Mordanschlag im deutschen Exil lebt. Ebenso die Investigativ-Journalist Ahmed Şık, der vor ein paar Jahren die Machenschaften von Gülen aufdeckte – als Gülen und Erdogan noch Freunde waren und zusammen regierten. Şık musste danach ins Gefängnis. Zu Beginn seiner Haft wurde er beschuldigt, selbst ein Gülenist zu sein. Heute wird er der PKK-Mitgliedschaft beschuldigt.
Ausgerechnet heute wird in der Türkei offiziell der Tag der Pressefreiheit gefeiert. Wäre eine Verurteilung dieser Männer das Ende der Pressefreiheit?
Für die türkischen Journalisten würde dies das Ende der Pressefreiheit bedeuten. Bereits heute kann jeder türkische, kurdische oder armenische Journalist jederzeit festgenommen werden, wenn er nicht auf Regierungslinie liegt. Wenn nun auch noch die Unbeugsamesten, die Journalisten von «Cumhuriyet», für Jahre hinter Gefängnismauern verschwinden, wäre das der vernichtende Schlag gegen die Pressefreiheit.
Eine Verurteilung der Unbeugsamesten, der Journalisten von «Cumhuriyet», wäre der vernichtende Schlag.
Was versteht Erdogan unter Pressefreiheit?
Dass die Journalisten frei sind, das zu schreiben und zu berichten, was die Regierung will und ausschliesslich dies. Präsident Erdogan sieht sich als oberster Chefredaktor des Landes wie auch als oberster Richter. Die Institutionen und Organe des Rechtsstaates werden ausgehöhlt und die Meinungsfreiheit überlebt in Erdogans Autokratie nicht. Can Dündar hat heute aus dem Exil geschrieben, seine Kollegen vor dem Gericht in Istanbul verteidigten nicht nur sich selbst, die Zeitung und die Pressefreiheit, sondern auch die Demokratie, die jetzt in der Türkei mit dem Tode ringe.