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Das vergiftete Erbe des IS Die gestohlenen Kinder von Sindschar

Vor fünf Jahren begann der «Islamische Staat» mit dem Völkermord an den Jesiden. Die Folgen wirken bis heute nach.

Wenn Rami und Rama Fangen spielen, erscheinen sie wie ganz normale Kinder. Dabei ist nichts mehr «normal» in ihrem Leben, seit am 3. August 2014 die Terrorhorden des selbst ernannten «Islamischen Staats» (IS) ihre Heimatstadt Sindschar überrannten. Sie nahmen die beiden Kinder gefangen. Drei Jahre alt war Rama damals, ihr älterer Bruder Rami war vier.

Jetzt sitzen die beiden Kinder in einem kargen Raum auf ein paar dünnen Matratzen. Neben ihnen sitzt ihr Onkel. Marges Hajji ist zusammen mit einer Tante der einzige Verwandte der Grossfamilie, der nach dem Krieg lebend nach Sindschar zurückgekehrt ist.

Pascal Weber sitzt mit Rami, Rama und Nisreen Younis am Boden.
Legende: Nisreen Younis, die Sozialarbeiterin (R), unterstützt Rami und Rama während des Gesprächs mit Pascal Weber (L). SRF

Eltern sind verschollen

Hajji zeigt auf sein Mobiltelefon: «Das ist die Mutter der beiden. Jemand hat uns gesagt, sie sei bei Baghouz gesehen worden, dem letzten IS-Dorf in Syrien.» Das war im März. Ob es stimmt, wissen sie nicht. Doch sie klammern sich an die Hoffnung.

Hajji wischt über sein Telefon. «Das da ist ihr Vater. Der IS hat uns einen Tag nach der Einnahme von Sindschar gefangen genommen. Mich haben sie sogleich von den anderen getrennt. Die Kinder und die Frauen haben sie nach Badusch gebracht, eine ihrer Hochburgen nahe Mossul.»

Dort hat der IS seine Gefangenen aufgeteilt: «Die beiden Kinder wurden von ihrer Mutter getrennt. Den Jungen Rami haben sie nach Raqqa in Syrien geschickt. Seine Schwester Rama brachten sie nach Mossul.»

Rama war drei Jahre alt, als sie von ihrer Mutter getrennt und als Dienerin und zur Umerziehung an eine IS-Familie verkauft wurde. «In der Familie gab es noch ein kleines Mädchen. Und einen alten Mann.» Wenn Rama erzählt, ist ihre Stimme fast nicht zu hören. Die Sozialarbeiterin, die uns zu den beiden Kindern geführt hat, streicht sanft über ihre kleine Hand.

Angst vor allen Fremden

Sie kennt Rama seit ihrer Rückkehr aus Mossul. Das war vor zwei Jahren. Als Mossul damals vom IS befreit wurde, fanden Polizisten das auf der Strasse herumirrende Jesiden-Mädchen. So kam sie zurück nach Sindschar. In ihre völlig zerbombte Heimatstadt, in der es zwar wieder ein paar tausend Einwohner, aber kaum eine Perspektive gibt: Weil es keine Arbeit gibt, weil viele Häuser immer noch vermint sind, und weil auch fünf Jahre nach dem Völkermord immer noch neue Massengräber entdeckt werden.

Trümmer von zerstörten Gebäuden
Legende: In der zerbombten Stadt Sindschar leben trotz widriger Umstände wieder ein paar tausend Einwohner. SRF | Pascal Weber

«War der alte Mann gut zu dir oder war er böse?» Nisreen Younis, die Sozialarbeiterin, versucht, ihre Stimme so alltäglich wie möglich klingen zu lassen, auch wenn ihre Fragen das genaue Gegenteil sind. «Er war gut. Und der andere Mann auch. Er hatte zwei Frauen.»

Rama knetet ihre Füsse. «Wie lange warst Du bei der Familie?» – «Lange …» Mehr mag Rama nicht erzählen. Onkel Hajji schaut sie mit warmem Blick an. «Sie hat immer noch Angst vor anderen Leuten. Sobald mehr als drei, vier Menschen zusammen sind, rennt sie davon. Die Angst und der Horror sind noch so tief in den Herzen der Kinder, sie machen beide noch in die Hose.»

Immer wieder weiterverkauft

Etwa 6000 Frauen und Kinder hatte der IS 2014 verschleppt. Fast die Hälfte davon wird bis heute vermisst. Und diejenigen, die die Gefangenschaft überlebt haben, werden ihr ganzes Leben lang traumatisiert bleiben. «Der IS ging von Haus zu Haus und hat uns verkauft.» Rami war vier Jahre alt, als er nach Raqqa gebracht wurde, in die Quasi-Hauptstadt des IS in Syrien.

Rami schaut in den Monitor der Reporter-Kamera.
Legende: Rami ist fasziniert von der Fernsehkamera der Reporter. SRF | Pascal Weber

Irgendwann hat er aufgehört zu zählen, wie oft er weiterverkauft wurde. Der Vierjährige wurde als Diener gehalten: «Ich musste ihnen Kaffee und Datteln bringen. Dabei haben sie mich immer wieder geschlagen. Mit Stöcken und Stromkabeln, einfach so.»

Dazwischen haben seine Peiniger ihn gezwungen, bei Enthauptungen zuzuschauen. «Ich musste zusehen, wie sie Menschen den Kopf abgeschnitten haben. Sie haben die Männer auf den Boden gelegt, ihre Hände waren hinter dem Rücken gefesselt. Dann haben sie ihnen den Kopf hochgehalten, «Bismillah» – im Namen Gottes – gesagt, und ihnen den Kopf abgeschnitten.» Abrupt steht Rami auf und geht nach draussen. Durch den Türspalt sehen wir, wie er sich übergibt.

«Bis heute hilft uns niemand wirklich!»

Die Folgen des Genozids an den Jesiden dauern bis heute fort. Kaum jemand spricht offen davon, doch die Zahl derjenigen, die nach ihrer Befreiung Selbstmord begehen, ist hoch. Viele der verschleppten Mädchen und Frauen wurden als Sexsklavinnen missbraucht. Knaben wurden einer Gehirnwäsche unterzogen und als Kanonenfutter in den Kampf geschickt.

Wie sehr der Völkermord die Jesiden als Gemeinschaft getroffen hat, lässt sich nur schwer abschätzen. Von der internationalen Gemeinschaft fühlen sich die Jesiden auf jeden Fall im Stich gelassen.

«Bis heute hilft uns niemand wirklich!» Fahed Hamed Omar schnauft energisch durch. Der Bürgermeister von Sindschar empfängt uns in seinem Hauptquartier. Es ist umringt von Stützpunkten der irakischen Armee, der türkischen PKK und von iranisch unterstützten Volks-Mobilisierungs-Einheiten.

Das allein zeigt das Dilemma der Jesiden. «Wir Jesiden trauen niemandem mehr.» Die irakische Armee hat die Jesiden 2014 genauso sich allein überlassen wie die kurdischen Peschmerga. Doch ohne ein Gefühl der Sicherheit wird es im Städtchen und in der Region um den Berg Sindschar kaum eine Rückkehr zu einem normalen Leben geben.

«Auf dem Berg leben immer noch mehr als 2300 Familien. Sie getrauen sich nicht in ihre Häuser und Dörfer zurück. Weil sie immer noch zerstört sind, weil es kein Wasser und Strom gibt, oder weil immer noch Minen herumliegen.» Bürgermeister Omar weiss, wovon er spricht. Er hat selbst fast vier Jahre lang auf dem Berg ausgeharrt.

Die Sozialarbeiterin Nisreen Younis spricht mit den Jesiden-Kindern in Sindschar
Legende: Die Sozialarbeiterin Nisreen Younis (L) spricht mit den Jesiden-Kindern in Sindschar. SRF | Pascal Weber

Rami ist inzwischen ins karge Wohnzimmer zurückgekehrt. Sein Onkel nimmt ihn in den Schoss. «Als Rami aus den Händen des IS befreit wurde und nach Sindschar zurückkam, ging es ihm gar nicht gut. Er konnte nicht in einem Zimmer bleiben, er wollte immerzu raus.»

Die Angst hielt Marges Hajji davon ab, seinen Neffen in die Schule zu schicken. «Ich befürchtete, wenn ich ihn zur Schule bringe, dann könnte er davonrennen und verschwinden. Deshalb habe ich beschlossen, ihn erst einmal eine Weile hier zu behalten, sodass er sich wieder an ein Zuhause gewöhnt.» An ein Zuhause, das nie mehr so sein wird wie zuvor.

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