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Debatte um Strafmündigkeit Australiens eingesperrte Kinder

In Australien sitzen Kinder in Haft – die meisten von ihnen sind Ureinwohner. Das Strafmündigkeitsalter liegt wie in der Schweiz bei nur zehn Jahren. Doch während in der Schweiz das Prinzip Erziehung vor Strafe gilt, werden in Australien Kinder auch wirklich hinter Gitter gesteckt.

Die Szene stammt nicht aus einer Einzelzelle des US-Gefangenenlagers Guantanomo Bay. Und auch nicht aus einem Folterkeller eines Geheimdienstes. Sondern aus Australien: Ein Aboriginal-Jugendlicher, festgeschnallt an Armen und Beinen auf einem Stuhl, mit einem Sack über dem Kopf und einer Fixierung um den Hals.

Der damals 17-jährige Dylan Voller war 2014 in einem Gefängnis im australischen Northern Territory auf diese barbarische Weise «ruhig gestellt» worden, wie die Haftleitung erklärte. Zuvor hatte er gedroht, sich selbst zu verletzen, um sich in den Schutz und die Sicherheit eines Krankenhauses retten zu können. Am selben Tag war der Minderjährige in ein Gefängnis für Erwachsene verlegt worden

Strafmündig ab zehn Jahren

«Das Justizsystem ist schon für Erwachsene wenig effektiv. Das trifft noch viel mehr zu im Umgang mit Kindern», sagt Chris Cunneen, Professor für Kriminologie in Sydney. Trotzdem werden jedes Jahr hunderte Kinder und Jugendliche festgenommen und hinter Gitter gesperrt.

Laut dem australischen Institut für Gesundheit und Wohlfahrt wurden 2018 und 2019 landesweit 773 Kinder unter 14 Jahren unter juristische Aufsicht gestellt und 570 von ihnen in Haft gesetzt. Die Justiz liegt in der Zuständigkeit der Bundesstaaten, die Behandlung von Kindern variiert somit. Was aber landesweit gilt, ist das Mindestalter für Strafmündigkeit: zehn Jahre.

Das Justizsystem ist schon für Erwachsene wenig effektiv. Das trifft noch viel mehr zu im Umgang mit Kindern.
Autor: Chris Cunneen Professor für Kriminologie

Zu jung, sagen Experten wie Cunneen. Verschiedene Organisationen sind deshalb daran, die zuständigen Behörden und Politiker zu überzeugen, das Alter auf 14 zu erhöhen. «Doch es ist ein langer Prozess», sagt Cunneen. Erst die vergleichsweise progressive Regierung von Australian Capital Territory (ACT), auf dem die Hauptstadt Canberra liegt, habe einer Erhöhung zugestimmt.

Die Vereinten Nationen hatten bereits 2019 erklärt, 14 sollte weltweit das niedrigste Alter für Strafmündigkeit werden. Mit einer Anpassung nach oben würde Australien der Praxis der meisten Länder Europas folgen, mit zwei bedeutenden Ausnahmen: Sowohl in Grossbritannien gilt nach wie vor zehn als Mindestalter – und in der Schweiz.

Anders als in Australien geht es hierzulande aber primär um den Schutz und die Erziehung der Jugendlichen, weshalb häufig keine Strafe im eigentlichen Sinne angeordnet wird, sondern eine erzieherische oder therapeutische Massnahme.

Einmal im System – immer im System?

Gründe, die für eine Erhöhung sprechen, gebe es genügend, sagt Chris Cunneen im Gespräch mit SRF. «Es ist erwiesen, dass es Kindern unter 14 Jahren an Impulskontrolle mangelt und sie eine schlecht entwickelte Fähigkeit haben, zu planen und Konsequenzen vorauszusehen», so der Experte.

Viele Kinder im Jugendjustizsystem hätten psychische Probleme und kognitive Beeinträchtigungen. Eine Studie aus dem Jahr 2018 ergab, dass neun von zehn Jugendlichen in westaustralischen Jugendarrestanstalten in mindestens einem Bereich der Gehirnfunktion stark beeinträchtigt waren. Sie hätten Probleme, Regeln und Anweisungen verstehen zu können.

Eine unverhältnismässig hohe Anzahl von inhaftierten Kindern habe zudem eine Vorgeschichte im Kinderschutzsystem. 2017 hätten sich drei von fünf Kindern im Alter von zehn Jahren zum Zeitpunkt ihrer ersten Aufsicht durch die Jugendjustiz auch im Kinderschutz befunden – unter Aufsicht von Sozialdiensten also. Es gebe genügend Beweise dafür, dass die Wahrscheinlichkeit eines lebenslangen Konfliktes mit dem Justizsystem höher sei, je früher ein Kind mit dem System in Kontakt komme.

Eine lange «Tradition»

Kinder hinter Gitter zu stecken hat in Australien Geschichte. «Als die Briten vor über 200 Jahren hier ankamen, lag das Alter sogar bei sieben Jahren», sagt Cunneen. Die Geschichtsbücher sind voll mit Beispielen von Kindern – oftmals verwaist und obdachlos –, die für lapidare Vergehen in die Verbannung nach Australien geschickt worden waren.

In der Alltagsbrutalität der jungen Kolonie wurden Kinder auch für kleinste Verfehlungen wie den Diebstahl eines Hemds vor den Richter gezogen und so brutal bestraft, wie wenn sie erwachsen wären. Einige wurden sogar gehängt.

Für Experten steht ein Mindestalter von zehn Jahren im Widerspruch zu anderen Rechten und Pflichten von Kindern. «Wenn wir wirklich glauben würden, dass Zehnjährige das Wissen und die Entwicklungsfähigkeit haben, um lebensverändernde Entscheidungen darüber zu treffen, was richtig und falsch ist, und zwar auf einem Niveau, das der strafrechtlichen Verantwortung entspricht, dann würden wir sie auch in anderen Bereichen des Lebens anders behandeln», glaubt Cunneen.

«Wir würden ein viel jüngeres Alter festlegen, ab dem Kinder Sex haben dürfen, die Schule verlassen, heiraten, einen Vertrag unterschreiben und wählen.» Viele Experten meinten, sogar 14 sei noch zu jung.

Aboriginal-Kinder übermässig betroffen

Zehn oder 14 oder noch älter – eine Erhöhung des Alters der Strafmündigkeit wird ein anderes Problem nicht lösen: die überdurchschnittlich hohe Inhaftierungsrate minderjähriger indigener Australierinnen und Australier. Bis zu 70 Prozent aller Kinder zwischen zehn und 14 Jahren in Haft seien Aboriginal, obwohl Ureinwohner nur gerade mal drei Prozent der Bevölkerung stellen, Aboriginal-Kinder zwischen drei und vier Prozent, meint Cunneen.

Ein zehnjähriges weisses Kind hat eine grössere Chance, mit einer Warnung davonzukommen.
Autor: Chris Cunneen Professor für Kriminologie

Sehr oft handelt es sich um Kinder, deren Eltern sie vernachlässigen, die aus von häuslicher Gewalt geprägten Familien stammen. Die meisten werden wegen einfacher Vergehen verhaftet. Sachbeschädigung, Autodiebstahl, gelegentlich Einbruch. Oder einfach, weil sie sich in der Nacht auf der Strasse herumtreiben. Vergehen, die natürlich auch in nicht-indigenen Gemeinden vorkommen.

Doch wie die Polizei mit solchem Verhalten umgehe, zeige einen «institutionalisierten Rassismus» gegenüber Ureinwohnern, so Cunneen. Aboriginal-Kinder würden wesentlich häufiger durch das Rechtssystem geschleust als nicht indigene. «Ein zehnjähriges weisses Kind hat eine grössere Chance, mit einer Warnung davonzukommen», meint der Kriminologe. Sowohl Polizei als auch Richter hätten die Option, Kinder, die sich etwas zuschulden kommen lassen, Erziehungsdiensten zu übergeben, statt sie in Haftanstalten unterzubringen.

Stattdessen werden in australischen Medien immer wieder Fälle bekannt, in denen indigene Kinder selbst für lapidare Handlungen hinter Gitter kommen – etwa für den Diebstahl eines Schokoladenriegels. Auch das Verhalten der Polizei gegenüber den Kindern zeigt oftmals rassistische Züge.

Laut Cunneen könne Australien bei der Behandlung von Kindern – nicht zuletzt auch indigenen – auf die umfangreichen Erfahrungen der europäischen Gerichtsbarkeiten zurückgreifen, wo sich Wohlfahrtsorganisationen auf das Wohlergehen und die sichere Entwicklung von Kindern in Situationen konzentrieren würden. Und zwar auch in Fällen, in denen Australien noch immer auf Polizei, Gerichte und Strafen zurückgreife.

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