Demokratie ist anstrengend und kompliziert. Liberale Demokratie ist noch viel anstrengender – und viel komplizierter. Deshalb sind viele von uns dieser liberalen Demokratie müde, oder glauben zumindest, ihr müde zu sein. Und deshalb steht es in vielen Ländern so schlecht um sie. Diese These vertritt der Politologe Yascha Mounk. Ein Gespräch über Populismus und den Wert der Demokratie.
SRF News: Warum sehen Sie die liberale Demokratie in Gefahr?
Yascha Mounk: Zunächst einmal, weil wir sehen, dass Populisten, die die Grundregeln der Demokratie mit Füssen treten, in vielen Ländern unglaublichen Aufwind haben. Das sieht man an Donald Trump in den USA, den grossen Umwerfungen in Polen und Ungarn aber auch in Westeuropa. Im Jahr 2000 hatten populistische Parteien ungefähr acht Prozent der Stimmen. Heute sind es 25 Prozent.
Warum ist das so?
Es gibt meiner Meinung nach drei Gründe dafür:
- Als die Demokratie stabil war, hatten die Menschen von einer Generation zur Nächsten einen unglaublichen Zuwachs an Lebensqualität. Mittlerweile haben die meisten das Gefühl, dass es ihnen nicht wirklich besser geht als ihren Eltern und es ihren Kindern vielleicht noch schlechter gehen könnte.
- Unsere Gesellschaften verwandeln sich von monoethnischen, monokulturellen (also Gesellschaften, in denen eine Volksgruppe und eine Kultur vorherrscht) zu multiethnischen Gesellschaften (also Gesellschaften, in denen es verschiedene Volksgruppen gibt). Die Menschen müssen umdenken, was ein echter Schweizer, Deutscher, Franzose oder Amerikaner ist.
- Das Internet macht es den Menschen viel einfacher, den Zorn und den Frust über diese beiden Entwicklungen zu äussern und hasserfüllte Nachrichten und Falschmeldungen zu verbreiten.
Jüngere Menschen haben keinen Eindruck davon, wie schlimm es ist, wenn man nicht in einer Demokratie lebt.
Faschismus und Kommunismus haben die Wenigsten von uns noch erlebt. Ist das ein Grund dafür, dass wir wieder offener sind für undemokratische Regierungsformen?
Absolut. Ich zeige in meiner Forschung, dass jüngere Menschen viel weniger Bezug zur Demokratie haben und teilweise offener sind für autoritäre Alternativen zur Demokratie. In den USA sagen beispielsweise über zwei Drittel der älteren Menschen, dass es ihnen extrem wichtig ist, in einer Demokratie zu leben. Unter jüngeren Amerikanern ist es weniger als ein Drittel. Sogar in Deutschland, Frankreich und Grossbritannien ist die Zahl der Menschen sehr stark gestiegen, die sich für autoritäre Alternativen begeistern können und sich beispielsweise einen starken Anführer herbeiwünschen, der sich nicht um Wahlen oder Parlamente kümmern muss. Das hat damit zu tun, dass jüngere Menschen keinen Eindruck davon haben, wie schlimm es ist, wenn man nicht in einer Demokratie lebt. Es geht ihnen ein bisschen wie den Fischen im Wasser, die dort leben, sich dessen aber nicht bewusst sind.
Das Problem ist für mich nicht, dass etablierte Parteien nicht weit genug links oder rechts stehen, sondern dass sie sehr wenig Fantasie und Visionen an den Tag legen, wenn es darum geht, wie sich ein Land verbessern könnte.
Man könnte aber auch sagen, dass viele Bürgerinnen und Bürger das Gefühl haben, dass die etablierten Parteien nichts in ihrem Interesse machen und neue Parteien suchen, die andere Interessen vertreten.
Das könnte man sagen und man würde damit nicht ganz falsch liegen. Die etablierten Parteien haben daran auch viel mitverschuldet. Das Problem ist für mich nicht, dass etablierte Parteien nicht weit genug links oder rechts stehen, sondern dass sie sehr wenig Fantasie und Visionen an den Tag legen, wenn es darum geht, wie sich ein Land verbessern könnte. Wenn neue Parteien kommen, setzen sie Themen auf die Tagesordnung, die die etablierten Parteien lieber ausgeklammert haben. Wichtig ist dann aber, dass sie die Grundnormen des politischen Systems respektieren. Genau das machen viele Populisten nicht. Sie sagen: «Ich alleine repräsentiere das Volk und jeder, der nicht mit mir übereinstimmt, ist ein Volksverräter und muss ausgeschaltet werden.» Das sieht man von der Schweiz bis in die USA, Ungarn und Polen.
In der Schweiz gibt es sieben Bundesrätinnen und Bundesräte. Keine Partei kann regieren, ohne auf die Bedürfnisse der anderen Rücksicht zu nehmen. Man müsste eigentlich sagen, die Schweiz ist das beste Beispiel, wie man es besser macht.
Das politische System der Schweiz hat sicher seine Vorteile. Man muss aber auch sagen, dass es auch hier viele Parteien gibt, die der Überzeugung sind, dass Menschen bestimmter Religionen und Hautfarben nicht dazugehören – und zwar auch wenn sie sich an die Regeln halten – und die den anderen Parteien die demokratische Legitimität absprechen. Das wird bisher vom politischen System in Schach gehalten, dieses Grundmuster macht mir aber auch in der Schweiz Sorgen.
Es ist möglich, dass sich das konsensuelle Politiksystem der Schweiz nicht auf immer fortsetzen lässt – auch wenn es bisher immer ganz gut funktioniert hat.
Worauf läuft das hinaus?
Jedes Land kann sich sehr gut vorstellen, dass in den anderen depperten Ländern grosse Probleme aufziehen werden – nur im eigenen nicht. Ich bin gerade durch Deutschland gereist und alle haben mir das Selbe gesagt, was mir die Briten und Amerikaner schon 2016 gesagt haben: «Bei uns kann sowas nicht geschehen.» Da würde ich mir auch in der Schweiz Sorgen machen. Es ist durchaus möglich, dass neue oder bestehende populistische Parteien an Stärke gewinnen. Es ist möglich, dass sich das konsensuelle (also auf Konsens basierte) Politiksystem nicht auf immer fortsetzen lässt – auch wenn es bisher immer ganz gut funktioniert hat.
Einen Ausweg, den Sie schildern, ist der sogenannte inklusive Nationalismus. Was meinen Sie damit?
Es gibt bei vielen Menschen die Versuchung zu sagen: «Der Nationalismus hat im 20. Jahrhundert so viel Unheil angerichtet. Vielleicht lassen wir ihn am besten in diesem furchtbaren Jahrhundert zurück.» Ich habe diese Versuchung auch manchmal verspürt. Ich denke aber, der Nationalismus ist ein halbwildes Tier: Wenn man es sich selber überlässt, kommen andere Menschen und stacheln es an, bis es so wild und gefährlich wie möglich ist. Wir sollten den Nationalismus aber selber besetzen, anstatt ihn den weit rechts Liegenden zu überlassen. Das bedeutet, dass wir stolz auf unsere Staaten sind und versuchen, ein kollektives Wir-Gefühl zu zelebrieren. Gleichzeitig müssen wir aber auch darauf insistieren, dass jeder, der in unseren Ländern lebt, sich einbringt und an die Regeln hält, Teil dieses Wir-Gefühls ist – egal welche Hautfarbe oder Religion er hat.
Sie werden als «Prophet des Untergangs der Demokratie» bezeichnet. Was ist das einfachste Rezept, diesen Untergang aufzuhalten?
Das eine einfache Rezept gibt es nicht. Wir müssen uns aber vor allem selber viel mehr demokratisch engagieren und für die Werte dieses Systems kämpfen. Ich kenne es aus der Schule so, dass man Lippenbekenntnisse abgibt, wie wichtig es ist, in einer Demokratie zu leben, aber es nicht wirklich versteht. Wenn man sich ansieht, was gerade in der Türkei, Polen, Ungarn, Russland oder den USA abgeht, wird klar, wie viel auf dem Spiel steht. Jeder hat seine eigene Weise, sich politisch zu engagieren, etwa durch Diskussionen mit Nachbarn und Familienmitgliedern. Vor allem muss man Populisten, die den Grundregeln der Demokratie nicht treu sind, den Kampf ansagen.
Das Gespräch führte Nicoletta Cimmino.