Die grosse Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland ist mit der Regierung unzufrieden. Trotzdem will sich der Grüne Robert Habeck als Kanzlerkandidat aufstellen lassen. Claudia Kade leitet das Ressort Politik bei der «Welt» und erklärt die Hintergründe.
SRF News: Welches Kalkül steckt hinter den Äusserungen Robert Habecks zu einer möglichen Kanzlerkandidatur?
Claudia Kade: Habeck war schon länger unter Zugzwang. Nachdem die grüne Aussenministerin, Annalena Baerbock, vor einigen Wochen erklärt hat, sie werde nicht noch mal antreten, lag der Ball bei Habeck. In der Tat ist in Deutschland nun das Momentum da, sich aufzustellen. Die Bundestagswahl ist voraussichtlich in etwa einem Jahr. Und Bundeskanzler Scholz hat gesagt, er wolle wieder antreten. Bei den konservativen Unionsparteien CDU und CSU soll nach den Landtagswahlen in Ostdeutschland im September eine Entscheidung über die Kanzlerkandidatur fallen. Deswegen sind die Grünen auch dran.
Das politische Ego von Robert Habeck wird sich auf jeden Fall zutrauen, für das Kanzleramt anzutreten.
In Umfragen liegen die Grünen bei ungefähr 12 Prozent, bei den Wahlen waren es noch knapp 15 Prozent. Ist da eine Kandidatur aus Ihrer Sicht überhaupt gerechtfertigt?
Ich denke schon. Wir haben in Deutschland erlebt in, wie volatil Wahlergebnisse sein können. Wir hatten bei der Bundestagswahl 2021 kaum damit gerechnet, dass die SPD als stärkste Kraft abschneiden würde. Scholz hat die Stimmung gedreht. Und Robert Habeck will mit den Grünen, so, wie sie jetzt dastehen, nicht ins Rennen gehen, sondern er will etwas verändern. Von daher kann ich mir vorstellen, dass – wenn die anderen mittelgrossen Parteien sich festgelegt haben, ob sie mit Kanzlerkandidaten ins Rennen gehen – die Grünen gute Argumente hätten, es auch zu versuchen. Und das politische Ego von Robert Habeck wird sich auf jeden Fall zutrauen, für das Kanzleramt anzutreten.
Gäbe es noch ernst zu nehmende Konkurrenz für Habeck bei den Grünen?
Eigentlich nicht. Das ist ein Problem für die Grünen. Ihr Spitzenpersonal ist sehr unbeliebt in Deutschland. Die Parteichefin Ricarda Lang hat schlechte Werte. Ihren Co-Parteichef Omid Nouripour kennen nur wenige. Aber Habeck ist eine belastete politische Figur. Er hat in den vergangenen Jahren massiven Unmut in der Bevölkerung auf sich gezogen, als er als Wirtschafts- und Klimaminister ein Heizungsgesetz vorgelegt hat, von dem sich grosse Teile der Bevölkerung völlig überfordert gefühlt haben.
Habeck hat im Interview gesagt, dass die Grünen vermehrt den Draht zur Bevölkerung finden müssten. Ist er dafür die richtige Person?
Tja, das ist die grosse Frage. Er steht – nach dem Heizungsgesetzdebakel – für einen überehrgeizigen Klimaschutz, der die Belange der Bevölkerung ausser Acht lässt und ihre finanziellen Möglichkeiten nicht ausreichend berücksichtigt hat.
Habeck ist einer, bei dem sich der Kanzler einiges abschaut.
Wie beliebt ist Habeck generell als Politiker in Deutschland?
Er ist ein Politiker, der Politik gut vermitteln und die Strategie erklären kann. Habeck ist einer, bei dem sich der Kanzler einiges abschaut. Er macht öfter mal kurze Videos, in denen er anschaulich erklärt, warum er wie entscheidet. Und das ist eine Gabe, die im Wahlkampf stark zum Tragen kommen kann und nicht zu unterschätzen ist.
Das Gespräch führte Nina Gygax.