Er ist der erste und einzige grüne Regierungschef Deutschlands: Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, dem Bundesland an der Grenze zur Schweiz. Bei einem Arbeitsbesuch hat er jüngst unter anderem den Bundesrat getroffen. Im Interview spricht er über Europa und die Schweiz, hiesiges Verhandlungsgeschick – und was Demokratie ausmacht.
SRF News: Sie gelten als Freund der Schweiz. Warum?
Winfried Kretschmann: Weil wir zwei Hochtechnologieregionen sind, eng verbunden in Forschung, Wissenschaft und Wirtschaft. Man muss nur auf die vielen Grenzgänger schauen. Für uns ist das Alltag – meine Tochter etwa lebt in St. Gallen und unterrichtet dort. Das ist heute Europa.
Europa hat nur eine Zukunft, wenn es zusammenarbeitet.
Mit 300 Kilometern gemeinsamer Grenze und rund 60'000 Pendlern: Gehört Baden-Württemberg mentalitätsmässig eher zur Schweiz als zu Deutschland?
Das wäre jetzt sehr unpatriotisch, aber klar: Im Süden sind wir stärker mit der Schweiz verbunden als mit den Preussen in Brandenburg.
Sie sehen die Verträge zwischen der Schweiz und der EU als strategisch notwendig. Warum?
Europa hat nur eine Zukunft, wenn es zusammenarbeitet. Die grossen geopolitischen Player – allen voran China – sind wirtschaftlich und technologisch auf Augenhöhe. Da können wir als Einzelstaaten nicht mithalten. Nur als starker europäischer Wirtschafts- und Wissenschaftsraum können wir Paroli bieten. Sonst sind wir zum Schluss die Werkbank anderer.
Die Handelsbilanz zwischen der Schweiz und Baden-Württemberg ist höher als die zwischen der Schweiz und China. Sind solche starken Wirtschaftsbeziehungen wirklich gefährdet, wenn das Vertragspaket scheitern würde?
Das passiert ja schon. Im Pharmabereich etwa müssen Firmen doppelt zertifizieren. Das kostet Zeit und Geld. Statt dass wir Hürden abbauen, bauen wir neue auf.
Kritiker sagen, die Verträge schränkten die Schweiz ein: EU-Recht übernehmen, Ausgleichsmassnahmen hinnehmen. Ist das fair?
Wer nur Deals will, bekommt Machtverhältnisse. Deshalb braucht es verbindliche Regeln. Die Schweiz ist, bei aller Stärke, der kleinere Partner. Das Schiedsgericht ist paritätisch besetzt, da sitzt die Schweiz gleichberechtigt mit der EU. Das ist ein Vorteil, den sie klug und hartnäckig ausgehandelt hat. Ich habe das in Brüssel gemerkt, wie die Gegenseite teilweise genervt war von der Schweiz. Das spricht für die Verhandlungsführung der Schweiz.
Sie sind der wichtigste Grüne in Deutschland. Annalena Baerbock und Robert Habeck sind ausgeschieden. Wie bedenklich finden Sie das?
Natürlich schmerzt das. Aber so ist Demokratie. Mal geht es rauf, mal runter. Jetzt müssen wir uns neu aufstellen. In Baden-Württemberg ist in einem Jahr Wahl – da haben wir durchaus Chancen, weiter zu regieren.
Demokratie lebt vom zivilisierten Streit über unterschiedliche Meinungen.
Die Umfragen sehen aber aktuell die CDU vorne.
Das war 2016 auch so. Wir wollen keine Umfragen gewinnen, sondern Wahlen.
Sie treten nicht mehr an und legen Ihr Amt nach 15 Jahren nieder. Was bleibt von Ihrer Amtszeit?
Wichtig war mir die Politik des «Gehört Werden»: Menschen ernst nehmen, sie beteiligen – nicht nur alle paar Jahre an der Urne. Demokratie lebt vom zivilisierten Streit über unterschiedliche Meinungen. Das hält unsere Gesellschaft zusammen.
Das Gespräch führte David Karasek.