Es ist Anfang Februar. Im grossen Saal der Störtebecker-Brauerei in Stralsund hält Angela Merkel ihren traditionellen Neujahrsempfang. Musik aus der Zauberflöte ist zu hören. Merkel ist Opernliebhaberin. Hier an der Ostsee in Vorpommern hat die Bundestagsabgeordnete Angela Merkel ihren Wahlkreis. Hier will sie gewählt werden.
Es folgt ihre Rede an Parteifreunde und viele andere geladene Gäste. Sie hat ein Manuskript, redet aber grösstenteils frei – über das, was man erreicht hat: niedrige Arbeitslosigkeit, eine Wirtschaft, die brummt, den Euro und seine Probleme. Sie redet auch darüber, dass noch sehr viel bewältigt werden muss.
Zuhören, strukturieren, abstrahieren, lösen
Nach der Rede geht sie im Saal von Tisch zu Tisch, setzt sich zu diesen, zu jenen, plaudert mit den Leuten. Wenn sie hier her in ihren Wahlkreis kommt, ist sie nur die Bundestagsabgeordnete Frau Dr. Merkel. Sie kommt ohne ihre ganze Entourage. Sie will mit den Leuten hier reden.
Am längsten sitzt sie beim Geschäftsführer der pleitebedrohten Volkswerft, dem grössten Arbeitgeber hier in der Stadt. Deren Geschäftsführer, Axel Schultz, hat immer wieder Kontakt mit ihr. Ich frage ihn was diese Frau denn ausmache? «Sie kann sehr gut zuhören, strukturieren und abstrahieren und dann auch sehr pragmatisch Lösungen finden», sagt Schulz. «Das schätzen wir sehr an ihr.»
Das hört man immer wieder. Die gelernte Physikerin, welche Probleme ganz präzise und systematisch angehe, sie in Teilprobleme zerlege und die dann Schritt für Schritt zu bewältigen suche.
«Sie ist von Grund auf ehrlich»
Ulrike Holtmann ist auch hier. Sie ist Chefreporterin des Radiosenders Antenne Mecklenburg-Vorpommern. Sie begleitet Merkel häufig, wenn sie hier oben in ihrem Wahlkreis unterwegs ist. Was macht den Erfolg dieser eigentlich doch wenig charismatischen Frau aus? «Ich glaube, sie ist von Grund auf ehrlich», sagt Holtmann. «Das spüren die Menschen.»
Ehrlich, unverstellt, völlig uneitel. Auch das macht die Merkel – neben ihrer analytischen Intelligenz – aus. Links und rechts von ihr kippen die von Guttenbergs, Röttgens und Wullfs um, weil sie sich zu sehr verbogen, zu sehr in Szene gesetzt haben. In der Mitte steht sie, stabil. Macht kaum Fehler, unterlässt jede Pose.
In der DDR eine Aussenseiterin
Das hat unter anderem mit ihrer Herkunft zu tun. Sie wuchs südlich von Stralsund, ausserhalb von Templin auf. Im Waldhof. Ein Brunnen plätschert auf diesem grossen Landgut. Hier war zur Jugendzeit von Angela Kasner, wie sie damals hiess, ein evangelisches Priesterkolleg, das ihr Vater leitete. Das Gut diente als Heim für geistig Behinderte. Das tut es heute noch.
Rechts des Brunnens ein stattlicher Bau, das frühere Kolleg. Links das zweistöckige Wohnhaus, in welchem Angela Kasner aufwuchs. Sie ging drüben im Städtchen Templin zur Schule. Dort war sie eine von ausserhalb.
Und sie gehörte auch sonst nicht ganz dazu in der DDR. Sie, ihre Eltern, waren natürlich streng evangelisch, keine Parteigänger. Und damit suspekt. Wenn Du weiterkommen willst in diesem System, musst du besser sein als die anderen, sagten ihre Eltern. Und das beherzigte sie. Sie war fleissig. Wurde zur Musterschülerin. Nur so war es ihr möglich, später Physik zu studieren, zu doktorieren.
Präzise Sachkenntnis
All das hat sie wohl geprägt. Speziell ihre Arbeit als Physikerin, sagt sie selber mit Blick auf Probleme, die sie heute lösen muss. «Man musste einen Schritt gehen und dann wieder schauen, was hat das bewirkt und was ist das nächste Problem. Das ist so, wenn man eine Herausforderung zu bewältigen hat, die es so noch nicht gab.»
Gemeint etwa: das Problem mit dem Euro. Ihre präzise Sachkenntnis auf vielen Gebieten, ihre Fähigkeit, Probleme präzise zu erfassen, macht nicht nur ihren Gegnern zu schaffen. «Wenn man sie unterschätzt, hat man verloren», sagte CSU-Chef Horst Seehofer im ZDF. «Sie ist immer sehr, sehr gut vorbereitet, weiss über alle Details Bescheid. Das zwingt zu höchster Sachkunde, wenn man mit ihr eine inhaltliche Diskussion führt.»
Sie ist gescheit, gut informiert, sehr systematisch, unprätentiös. Sie hat kein wirkliches Charisma, ist eine sehr nüchterne Person. Und sie ist absolut nicht eitel. Aber wofür steht die Frau? Sie war mal für die Wehrpflicht. Dann hob sie sie auf. Sie war mal für eine Verlängerung der Atomkraft dann verkürzte sie die. Sie war gegen die Homo-Ehe. Dann dafür. Gegen Mindestlöhne, dann nicht mehr. Das bringt ihr auch Kritik ein. «Die Partei sehnt sich danach, inhaltlich geführt zu werden», sagte etwa der frühere CDU-Politiker Jörg Schönbohm im ZDF. Und dafür hat sie keine Zeit mehr – und vielleicht auch keinen Sinn.»
Sinn für die taktischen Fragen
Kein Sinn für inhaltliche Führung – vielleicht. Aber sicher Sinn für die richtige taktische Ausrichtung der Partei. Wie beim letzten Mal besetzt Merkel auch jetzt wieder Positionen der Gegner und schwächt sie damit. Mindestlohn. Atomkraft. Homo-Ehe.
Eine Physikerin der Macht wird sie immer wieder genannt. Sie ist sicher eine Frau, die keine grossen Visionen hat, aber sehr genau berechnet, wo welche Hebel anzusetzen sind, wenn man Politik macht.