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Flüchtlinge als Druckmittel «Die Drohung Erdogans wird in Brüssel ernst genommen»

Die EU ist aussenpolitisch in der Klemme. Soll man gegenüber dem türkischen Präsidenten Erdogan Härte zeigen und gleichzeitig das Flüchtlingsabkommen riskieren? SRF-Korrespondent Sebastian Ramspeck über die Gefühlslage in Brüssel.

Die Vorgeschichte

  • Aufgrund des Krieges in Syrien, der Gewalttaten der Terrormiliz IS im Nahen Osten und der desolaten wirtschaftlichen und politischen Situation in ostafrikanischen Ländern versuchten immer mehr Menschen, über das Mittelmeer oder über den Landweg via die Türkei nach Europa zu gelangen. Die Flüchtlingsbewegung erreichte Höchstzahlen im Jahr 2015.
  • Die Überfahrt übers Mittelmeer forderte Tausende Todesopfer.
  • Im März 2016 hat die EU mit der Türkei ein Abkommen vereinbart. Die Türkei hat sich bereit erklärt, alle Personen, die ab dem 20. März 2016 ohne gültigen Aufenthaltstitel nach Griechenland gekommen sind, zurückzunehmen.
  • Die Landroute über den Balkan ist aufgrund geschlossener Grenzen seit Frühling 2016 nicht passierbar.

SRF News: Macht Erdogans Drohung, das Flüchtlingsabkommen mit der EU zu kündigen, in Brüssel Eindruck?

Sebastian Ramspeck

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Sebastian Ramspeck ist SRF-Korrespondent in Brüssel. Zuvor arbeitete er als Wirtschaftsreporter für das Nachrichtenmagazin «10vor10». Ramspeck studierte Internationale Beziehungen am Graduate Institute in Genf.

Sebastian Ramspeck: Sie wird zumindest ernst genommen. Es gibt viel Misstrauen gegenüber dem türkischen Regierungschef, und niemand würde ausschliessen wollen, dass Erdogan seine Drohung wahr machen könnte. Klar ist auch, dass die Furcht gross ist, dass irgendwann wieder Zustände wie im vergangenen Jahr herrschen könnten.

Das EU-Parlament will die Beitrittsgespräche mit Ankara einfrieren. Was soll damit erreicht werden?

Das Parlament will fernab von realpolitischen Erwägungen ein Zeichen gegen die Missstände in der Türkei von Erdogan setzen. Im EU-Parlament sitzen Politiker, die keine Regierungsverantwortung tragen. Sie sehen ihre Institution gerne als moralische Instanz und nehmen sich die Freiheit, die Türkei offener und heftiger zu kritisieren als Regierungen dies tun.

Die EU-Kommission ist weniger konfrontativ als das EU-Parlament. Oder ist dieser Eindruck falsch?

Nein, ganz falsch ist dieser Eindruck nicht. Zwar kritisiert die Kommission die Türkei immer wieder, und zwar mit deutliche Worten. Es bleibt aber oft bei den Worten, Taten folgen ihnen keine. Immerhin soll erst die Visafreiheit für türkische Bürger kommen, wenn die Türkei Zugeständnisse beim Thema Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit macht. Insgesamt geht es um sieben Bedingungen, die erfüllt werden müssten. Es geht zum Beispiel um Änderungen beim türkischen Antiterrorgesetz, das eine wichtige Rolle bei den Repressionsmassnahmen der türkischen Regierung gegen Oppositionelle und Journalisten spielt.

Immerhin soll erst die Visafreiheit für türkische Bürger kommen, wenn die Türkei Zugeständnisse beim Thema Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit macht.

Ist die Merkel’sche Realpolitik überhaupt irgendwo in der EU umstritten?

Unter den 28 nationalen Regierungen in der EU ist dieses Flüchtlingsabkommen wenig umstritten. Das Abkommen erfüllt aus Sicht der Regierungen seinen Zweck. Und 2017 wird in den Niederlanden, in Frankreich und in Deutschland gewählt. Die amtierenden Regierungen wollen einen neuen Flüchtlingsansturm um jeden, oder zumindest um fast jeden Preis verhindern.

Das einzige Land, das ausschert, ist Österreich. In Wien hat man ein Waffenembargo gegenüber der Türkei verhängt. Fürchtet man sich in Wien nicht vor möglichen neuen Flüchtlingsströmen?

Gerade in Österreich fürchtet man sich vor einem neuen Flüchtlingsandrang. Österreich hat auch grossen Einfluss auf die Schliessung der Balkan-Route gehabt. Es ist vor allem Sebastian Kurz, der junge und populäre österreichische Aussenminister, der sich öffentlich immer wieder querstellt. Er hat sich gegen das Flüchtlingsabkommen ausgesprochen und auch gegen das Fortsetzen der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Kurz kann sich das als Vertreter eines kleinen Mitgliedstaates der EU erlauben und er ist offenbar auch persönlich überzeugt davon, dass die Wirkung des Flüchtlingsabkommens mit der Türkei überschätzt wird. Er glaubt, dass es vor allem die Schliessung der Balkanroute zum Rückgang der Anzahl Flüchtlinge geführt hat.

Gibt es denn einen Plan B, wenn die Türkei das Abkommen aufkündigen würde?

Nein, diesen gibt es nicht. Aber es gibt wohl die Hoffnung, dass der österreichische Aussenminister Kurz mit seiner Einschätzung recht hat, dass eine Aufkündigung des Flüchtlingsabkommens der Türkei nicht unbedingt wieder zu den ganz grossen Flüchtlingsbewegungen führen würde, die Europa 2015 erlebt hat. So genau weiss es allerdings niemand, und deshalb wird die EU so lange wie möglich an diesem Abkommen festhalten wollen.

Das Gespräch führte Isabelle Jacobi.

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