Seit wir mit unserer Suche vor zwei Wochen begonnen haben, sind wir unserem Ziel, das verschollene Gemälde zu finden, noch nicht viel näher gekommen. Die Rückerstattungsakte von Paula Engelberg hat uns nicht weiter gebracht, die Spuren in die Galerien sind bislang zumindest versandet oder benötigen noch weitere Recherche.Über die Auktionshäuser sind wir zwar auf weitere Gemälde des Künstlers Otto Theodor Stein gestossen, aber keines davon ist das der Engelbergs.
Auf der Suche
Einige von uns glauben immer weniger daran, dass wir das Bild wirklich finden können. Von dem Weg, den Paula Engelberg damals genommen hat, eine Abzweigung in die Zukunft zu finden, ist jedenfalls nicht einfach.
Deshalb gehen wir nun auch den umgekehrten Weg: Wir versuchen, uns über Steins Bilder, die noch existieren, in die Vergangenheit zurückzutasten. Wir verlassen München und fahren über leere Autobahnen nach Liberec in Tschechien. Wir wollen uns dem Künstler Otto Theodor Stein annähern.
In der Galerie Lázne, eröffnet vor einem Jahr im früheren Stadtbad, zeigen wir der Historikerin Anna Habanova das Schwestergemälde und erzählen ihr die Geschichte der Engelbergs. Habanova zweifelt an der Überlieferung, dass Paula Engelberg das Gemälde zusammengerollt habe, denn Stein habe oft auf Pappe und Karton gemalt. Und: «Warum sonst sollte sie nur eines der zwei Gemälde weggegeben haben?»
Auf einmal beschäftigen wir uns mit Fragen, die uns anfangs nicht in den Sinn kommen wollten oder die uns unsere Mitsuchenden über Whatsapp stellen. War es tatsächlich Öl auf Leinwand? Warum hat Paula das Gemälde aufgerollt, wenn es dadurch höchstwahrscheinlich beschädigt wurde? Kann es auch einen Halbakt gezeigt haben? Haben die Engelbergs beide Gemälde zur gleichen Zeit erworben? War es überhaupt ein Stein?
Bekannt mit Kandinsky und Klee
Wir fahren weiter nach Chemnitz, dorthin, wo Otto Stein die glücklichsten Jahre seines Lebens verbracht hat; dorthin, wo zur selben Zeit auch die Engelbergs wohnten. «Es gibt nur zwei Städte, in denen man arbeiten kann. Paris, wo man den Takt hat, jeden für sich arbeiten zu lassen, und Chemnitz, wo ich niemanden kenne, der mich bei der Arbeit stört», hat Stein in einem Brief geschrieben.
Der Grossstadt überdrüssig zieht Stein auf Empfehlung eines Mäzens nach Sachsen. In den 1920er Jahren rauchen hier die Schlote der Textilfabriken, bald schon wird es das sächsische Manchester genannt. Mit der Wirtschaft geht es bergauf und zu seinem Kundenkreis zählen viele Industrielle. Dass er in Chemnitz niemanden kennt, ändert sich schnell. Noch bevor er 50 Jahre alt ist, ist der Künstler über die Landesgrenzen hinweg bekannt, verkehrt unter anderem mit Kandinsky, Liebermann und Klee.
Sich selbst beschreibt Stein als malenden Lyriker, der seine Gegenstände durch grau verschleierte Farbigkeit entmaterialisiert. Wer seine Bilder geniessen will, braucht Zeit - und das richtige Licht. Sie gehören ans Licht, sperrt man sie weg, werden sie düster. Steins Kunst ist jedenfalls kein Fast Food.
Otto Stein ist Mitglied des Rotary Clubs und wohnt auf dem Kassberg, einem beliebten Viertel unweit des Stadtzentrums, so wie viele seiner Kunden. Etwa zwei Kilometer entfernt, in der Theaterstrasse 29, wohnen die Engelbergs. Begegnete man sich zufällig? Oder vielleicht im Dunstkreis von Engelbergs Chef, dem Textilfabrikanten Theodor Sore? In der jüdischen Gemeinde wahrscheinlich nicht, denn Stein konvertierte früh zum Christentum, bezeichnete sich lieber als Paneuropäer und Kosmopolit und blickt eher kulturpessimistisch auf seine Zeit: «Die Welt wird heute vom Kaufmann regiert - und sieht auch danach aus. Frühere Zeiten haben Dome, die Bilder Rembrandts, die Symphonien Beethovens hinterlassen. Was wird von unseren bleiben? Würde man nicht sein Leben an der Staffelei zubringen, dann könnte man es im heutigen, von Phrasen zugedeckten Deutschland kaum ertragen.»
Mitten hinein kracht die Wirtschaftskrise und in ihrem Fahrwasser die Nationalsozialisten. Für sie bleibt Stein Jude.
Nach seiner ersten Verhaftung 1933 zieht Stein nach Prag. Er ahnt, was kommen wird, und sucht Trost in seiner Arbeit. «Ich kann nicht anders, als jeden Morgen mich wie ein Hahn auf die äusserste Spitze der beschissenen Hühnerleiter hinaufzuschwingen und über all dem Dreck hinweg dem Licht entgegen krähen, das heisst, malen solange ich kann.»
Die Engelbergs sind inzwischen in die USA geflüchtet. Die Mäzene nach England, Südfrankreich oder nach Buenos Aires. Stein wird nach Theresienstadt deportiert. Nach dem Krieg gerät er wie viele andere deutsch-böhmische Künstler in Vergessenheit.
Wer kennt eines dieser Gemälde?
Begutachtung in Leipzig
Bis ihn Olaf Thormann zurück an Licht bringt. Thormann stammt aus Chemnitz, kommt während des Studiums mit Stein in Berührung. In München sind wir auf seine Dissertation über Steins Leben und Arbeit gestossen, jetzt sitzen wir in seinem Garten in Leipzig-Gohlis, umgeben von Rosen, Veilchen und Flieder. Der stellvertretende Direktor des Leipziger Grassi Museums öffnet die Schleifen von grauen Kladden, zum Vorschein kommen die Bilder, die wir in der gedruckten Dissertation nicht sehen konnten. Das sei Anfang der Neunziger zu teuer gewesen, sagt Thormann. Auf schwarzer Pappe hat er versucht, alle Fotos von den Werken Steins zusammenzutragen, die er bis heute nachweisen kann. Es sind etwa 250 Gemälde. Thormann schätzt, dass es aber noch 50 bis 60 mehr geben muss.
Bevor wir uns aber in diesen Berg von Material begeben, lassen wir Thormann ein Foto des Gemäldes in Portland begutachten. «Also die Farbigkeit, die gesamte Anlage deutet eindeutig auf die Zeit Ende der 1910er Jahre hin. Zu der Zeit ist Stein noch vergleichsweise farbig. Die Farbigkeit wird in den nachfolgenden Jahren immer gedämpfter. Auch in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg ist er weitaus matter. Es ist also wohl aus der Zeit, wo die Wiener Werkstatt in Europa Furore macht.» Thormann grenzt den Zeitraum auf 1918 bis 1921 ein, in der es Stein gemalt haben könnte.
Verräterische Spuren auf einem Bild
Ein Kriterium, das wir bei der Suche des verschollenen Schwestergemäldes ebenso aufweichen müssen wie die exakten Masse oder das Motiv. Wir beziehen also fast jede Frau in unsere Suche ein - auch jene, die kein Buch lesen, sondern etwa eine Katze streicheln. Gemeinsam mit Thormann gehen wir eine Abbildung nach der anderen durch. Und schliessen alle Werke mit einer lückenlosen Provinienz aus, Bilder etwa, die sich bis in die 1990er Jahr im Besitz der Familie Böhme befunden haben, jener Familie, bei der Stein während seiner Zeit in Chemnitz lebte. Oder die Bilder, die einer seiner Mäzene schon 1933 nach Südfrankreich und später nach Buenos Aires in Sicherheit gebracht hat.
So machen wir das Bild für Bild. Bis wir auf ein Gemälde stossen, dass verräterische Spuren aufweist. Es ist ein Bild, Öl auf Leinwand, das eindeutig aufgerollt wurde, unverkennbar beschädigt. Es befand sich im Nachlass eines Gerhard Seydel, eines Lehrers aus Thalheim bei Chemnitz, der Stein verehrte und ihm im Exil und nach dem Krieg dabei half, einen Teil seiner Kunst wiederzufinden. Und es gehört zu etwa 50 Bildern, die Thormann vor fünf Jahren an die Leipziger Kunsthandlung Pauer vermittelte. André Pauer hat die Bilder anschliessend wohl einzeln über Ebay weiter verkauft.
Aber das ist nicht das einzige Bild, das in Frage kommt. Eine 84-jährige Dame aus Schongau in Oberbayern ruft an, sie besitzt einen Stein und hat von unserer Suche gehört. Ihre Schwiegertochter fotografiert das Bild und schickt es per Mail uns zum Abgleich. Ihr Vater hat es 1950 in Thalheim gekauft. 2007 hat sie vergeblich versucht, es beim Auktionshaus Ruef in München loszuwerden.
Thormann kennt es. Und auch das Bild, dass uns Gerald aus Wien vergangene Woche schon über Whatsapp geschickt hat. Eine Frau mit Katze. Wir packen beide auf unsere Liste mit insgesamt 14 möglichen Kandidaten, alle zeigen eine Frau, der Verbleib aller nach 1938 ist unbekannt. Gemeinsam mit unserer Illustratorin entwerfen wir ein Fahndungssplakat. Gleichzeitig informieren wir Edward Engelberg. Wir wollen ihm die Bilder zuerst zeigen. Vielleicht kann er eines davon identifizieren. Vielleicht kann er unsere Suche weiter eingrenzen. Der fast 90-jährige Mann wird für uns zum ersten Mal skypen. Er muss sich nur noch eine Webcam besorgen.
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